Autisten haben es im Leben unendlich schwer, weil sie die Regeln des Umgangs mit anderen Menschen nicht verstehen können. Daher ist es nur logisch, dass sie sich aus der realen, physischen Welt zurückziehen und ihre Gabe, Muster zu erkennen und logisch zu denken, in einer kontrollierbaren virtuellen Welt entfalten.
Und darum geht es in Connect. In der nahen Zukunft scheint kaum jemand den breiten digitalen Informationsfluss so gut zu verstehen wie Colt, jugendlicher Autist. Wer dieses Wissen hat und auch noch weiß, wie er diesen Fluss manipulieren kann, scheint ganz realistisch Superkräfte zu haben.
Erstmal hatte ich allerdings die ersten vielleicht 300 Seiten lang Probleme, mich überhaupt weiter für das Buch zu motivieren. Es lebt so vor sich hin, in all seiner Seltsamheit. …
Seltsam wegen des Schreibstils, der etwas gewöhnungsbedürftig ist. Er erinnerte mich an den von Cormac McCarthy in Die Straße, etwas abgehackt, aber trotzdem präzise. Julian Gough wirft den Leser auch ins kalte Wasser. Noch vor dem eigentlichen ersten Kapitel kommt eine Art nulltes Kapitel, in dem jemand in Ich-Form eine Verbindung zwischen Buch und Leser und Geschichte herstellt und dabei viele Fragen aufwirft. Schon von Anfang an ist klar: Hier gibt es eine Metahandlung!
Wer ich bin? Nun, das ist eine interessante Frage. Offensichtlich erzeugt jemand diese Wörter, schreibt dieses Buch; der Typ, dessen Name unter dem Titel steht. Der macht das jetzt gerade, in Berlin, auf einem alten Laptop, an einem noch älteren Schreibtisch in der Ecke seines Schlafzimmers.
Nennen wir es mal „nulltes Kapitel“
Aber der bin nicht ich.
Das ist ein Roman. Der in der Zukunft spielt. Aber er ist auch wahr. Keine Sorge, am Ende wird alles klar werden.
Entsprechend gespannt startete ich in das Buch … und landete in einer extrem merkwürdigen Familiensituation, die sich erst einmal erschließen musste.
Leben mit einem Autisten
Titel: Connect
Erstveröffentlichung: 3.05.2018 (Orig.) / deutsch 16.09.2019
Deutsche Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
ISBN: 978-3570102978
Seiten: 624
Naomi ist geschiedene Wissenschaftlerin an einer Biotech-Forschungsstätte. Obwohl sie überaus interessante Forschungsergebnisse hätte, scheut sie sich zu publizieren, weil sie ihren sechszehnjährigen Sohn Colt dann zugunsten von Vorträgen und neuen Projekten vernachlässigen müsste.
Und Colt bedarf großer Fürsorge: Er ist schwer autistisch und damit von der Welt und ihren Herausforderungen völlig überfordert. Zwischenmenschlicher Kontakt macht ihm Angst, er kann menschliche Signale nicht interpretieren. Humor und Ironie sind ihm fremd. Das Bewältigen einfachster Situationen, wie die Annahme einer bestellten Pizza (siehe Zitat weiter unten), führt bei ihm schon fast zu Panikausbrüchen. Blickkontakt oder sogar Berührungen verunsichern ihn, er meidet beides möglichst.
Selbst bei seiner Mutter, die ihren Sohn natürlich genau kennt und ihr gesamtes Leben auf seine Bedürfnisse eingerichtet hat. Colt straft sie – ohne etwas dafür zu können – dennoch meistens mit Ungeduld oder gleich mit Missachtung ab.
Um Kontakte mit Menschen, die er einfach nicht verstehen kann, zu minimieren, zieht sich Colt zu fast 100 % in eine virtuelle Gamewelt zurück. Er hat keinen Bedarf und es gibt auch kaum die Notwendigkeit, den Game-Helm überhaupt jemals abzusetzen. Der Helm ist VR-Brille, Computerschnittstelle und Abschirmung vor der realen Welt, der „Kackwelt“, zugleich. Damit kann er die Geräusche von „outgame“, also von außerhalb seines Spiels, nach Belieben ausblenden.
Und der Lufthauch seines Atems streicht in die Tiefen seines dunklen Inneren. Sauerstoff flutet über die halb-hektargroßen Felder der Lunge, wird in die schnell fließenden Blutkanäle geleitet und durch das ausgebreitete Imperium seines Körpers gewirbelt, um lautlos die Nahrung in jeder Zelle zu entzünden. Er brennt, er brennt vor Leben, er lebt, und er sieht sich um, und die Welt lebt.
Immer wieder nutzt Gough einen sehr detaillierten Stil, um Colts Bewusstsein besser zu beschreiben. So gelingt es ihm zu zeigen, wie Colt denkt.
Rückzug in eine virtuelle Gamewelt
Doch Colt ist nicht einfach nur ein Zocker, und das Game ist nicht nur einfach ein Game, in dem es um Levels, Gold oder Punkte geht. Es ist eher eine Welt in der Welt, ein virtueller Ort, den sich die Spieler selbst schaffen und an dem sie sein können, wer sie wollen. Perfekt für Colt. Das Game ist sein eigentliches Zuhause, der einzige Ort, den er kontrolliert. Denn Colt ist Coder, also eine Art Hacker.
Sein Beitrag zum Game ist die perfekte Abbildung der realen Begebenheiten in die Spielwelt, das sogenannte Mapping. Wenn sich in seinem Zimmer ein Stuhl befindet, steht dort ingame ein großer Stein, auf dem er sitzen kann.
Alles in der realen Welt soll seine (vorindustrielle) Entsprechung in der Gamewelt haben, so dass er sich komplett frei in der virtuellen Welt bewegen und gleichzeitig Gegenstände in der realen Welt nutzen kann. Ohne sich den Zeh zu stoßen. Colt erschafft also eine Simulation der Realität.
Er [Colt] fasst, ingame, zur Tür, seine Hand nähert sich dem groben Holzding, durch das er Lichtfetzen, das Mondlicht und eine Bewegung erkennen kann. Das Game versteht die Logik der Situation, das Mapping ist gut, und Colt ist beruhigt.
Colt hat eine Pizza bestellt und muss zur Tür, als sie geliefert wird.
Aber die Tür öffnen, ingame, und mit einem Fremden zurechtkommen, outgame: nein. […]
Panik.
Atmen. Atmen.
Er schaltet das Mapping aus. Atmet.
Er schaltet das Game aus.
Oh, das enttäuschende Licht. Die flache Welt. Fehlende Energie, fehlender Kontrast.
Eine Tür, eine Wand.
Flach und strukturlos in einem Nichtlicht.
Es versetzt ihm einen Stich. Der Verlust.
Entsprechend viele Fachbegriffe aus der Computertechnik im weitesten Sinne nutzt Gough, um Colts Gedanken passend wiederzugeben. Mappen ist eines seiner Lieblingswörter :D
Der Einstieg in Connect ist langatmig
Das ist alles soweit interessant – doch die erste Hälfte des Buches plätschert eher vor sich hin. Wir lesen, wie schwer es für Naomi ist, überhaupt Zugang zu ihrem Sohn zu finden. Behutsam zu versuchen, mit ihm zu sprechen und ihn sogar zum Essen zu überreden.
Das alles auch noch ziemlich unemotional und im oben gezeigten abgehackten Schreibstil. Ich fühlte mich damit nicht angesprochen, nicht involviert, sondern mehr als unliebsamer Besucher, dem man nur ungeduldig ein Glas Wasser hinstellt. Für den Leser ist einfach unklar: Was genau passiert jetzt? Wohin führt das?
Dazwischen eingestreut gibt es immer wieder angedeutet oder explizit Sexszenen, die für ein Buch, dessen Rahmen man noch gar nicht kennt, etwas deplatziert wirken. Der Geschichte fehlt es anfangs an einem Spannungsbogen oder überhaupt einem roten Faden.
Davon, dass auf dem Buchrücken etwas von „überwältigendem Techno-Thriller“ und einer „Jagd auf Mutter und Sohn“ steht, ist lange Zeit nichts zu bemerken. Zwischendrin dachte ich schon ans Aufhören und die Pausen zwischen dem Weiterlesen verlängerten sich.
Von verschiedenen Welten
Aber ich bin froh, weitergelesen zu haben. Denn es gibt eine Rahmenhandlung, und sie ist überwältigend. Kein Wunder, dass Gough sechs Jahre an seinem Buch geschrieben hat! Leider darf ich an dieser Stelle natürlich nicht verraten, auf was es hinaus läuft, aber ich war davon begeistert!
Nur soviel: Julian Gough beschreibt die virtuelle Gamewelt nicht wie irgendeinen Spleen oder Sucht für Teenager. Vielmehr vermittelt er als Autor zwischen Colt mit seiner virtuellen Welt und seiner Mutter, der die Gamewelt fremd ist. Und dieses Aufeinanderprallen von Welten zieht sich durch das ganze Buch.
Die virtuelle und die physische Welt. Die Mikrowelt von Atomen und die Makrowelt von Himmelskörpern. Die Welt der Körperzellen, die einen menschlichen Organismus ergeben, ohne die höheren Ziele ihres Menschen zu kennen; und die Welt der einzelnen Menschen, ebenfalls aus ihrer vorgeprägten Perspektive nicht erkennen können, was das Beste für die Menschheit ansich ist.
Menschen suchten immer nach übergeordneten Instanzen – Gott, bzw. Göttern – die alles überblicken und den Lauf der Dinge leiten, denn der einzelne Mensch kann das nicht. Und auch hier gibt es eine Polarität: Naomi glaubt vage an Gott und eine göttliche Lenkung. Aber muss Gott unbedingt mit Religion verknüpft sein? Oder könnte auch Technik Gott sein?
Labyrinth oder Schaltplan, oder beides?
Das Verschmelzen von verschiedenen Welten ist auf dem Cover ganz einfach dargestellt. Es könnte ein Labyrinth zeigen … oder einen technischen Schaltplan. Beides passt perfekt zu Connect. Das Leben kann ein Labyrinth sein, in dem man sich nicht auskennt. Von dem niemand weiß, welcher Weg der beste ist. Was passiert, wenn man falsch abbiegt.
Ein Labyrinth kann aber auch ein Rätsel sein. So wie das Verhalten von Menschen, für jemanden, der sich mit menschlichen Verhaltensweisen nicht auskennt. Oder ein Labyrinth ist ein Spiel. Denken wir doch nur an Pacman, der auf ewig in seinem Labyrinth herumirrt und irgendwelche Früchte futtert. Womit wir bei Videospielen sind, und natürlich auch bei Schaltplänen für Computerkomponenten. Elektrische Signale führen dazu, dass Informationen weitergeleitet und verarbeitet werden – genau wie im menschlichen Gehirn!
Dass Colt Autist ist und Informationen zwar erkennt, aber nicht interpretieren kann, passt am Ende auch perfekt dazu, auf was das Buch hinausläuft.
Sein Defizit ist ihm übrigens bewusst und er wünscht sich mehr Gehirnkapazitäten, um endlich menschliches Handeln besser verstehen zu können. Hier spielt er selbst Gott – indem er die Forschungen seiner Mutter verwendet, um sein eigenes Gehirn zu modifizieren.
O Mann, es wird nicht ohne Funktionsverlust abgehen. Einige alte neurale Pfade werden überschrieben werden. Unmöglich, das innerhalb der neuen Grenzen zu bewahren.
Colt möchte sich selbst verbessern (Zitat aus Julian Gough – Connect)
Das Gehirn ist holistisch, es nimmt keine sauberen Trennungen vor.
Selbst wenn es funktioniert … Im Grunde verpasse ich mir Superkräfte und einen Schlaganfall zugleich. Und hoffe, ungeschoren durchzukommen.
Woran mich Connect noch erinnerte…
Im späteren Verlauf von Connect fühlte ich mich an drei weitere Bücher erinnert:
- Otherland von Tad Williams aus den späten Neunzigern und frühen Nuller-Jahren – auch hier kommt es zu einer Vermischung von virtueller und realer Welt, wenn auch völlig anders.
- „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende. Es ist schon ewig her, dass ich das Buch las, wirklich ewig. Aber in einer längeren Szene in Connect kamen mir wieder Bilder von Atrejus verzweifeltem Kampf in den Kopf, als alles um ihn herum zusammenbricht und vom Nichts verschlungen wird, während er versucht, die Worte der Kindlichen Kaiserin zu verstehen. (Oh man, die „Unendliche Geschichte“ ist so ein tolles Buch!)
- Homo Deus von Yuval Noah Harari, auch wenn das kein Roman ist. Denn auf einmal steht auch in Connect die Frage im virtuellen Raum: Was sind die großen Probleme der Menschheit? Warum gibt es Gewalt und Ungerechtigkeit? Und wie kann man das lösen?
Er steht erstarrt in der Wüste. Schließlich kommt eine weitere Flocke [ein Symbol seiner Helferin].
Colt kämpft gegen eine Übermacht (Zitat aus Julian Gough – Connect)
[…]
Er ist so müde.
Ihm ist so kalt.
Er weiß nicht, was er sagen soll.
Und Flocke auf Flocke, immer schneller, wird der Schnee in der Gamewelt schwarz.
Der Wind erstirbt.
Von Rücksicht und Ungeduld
Am Anfang und im mittleren Bereich der Geschichte habe ich mich hin und wieder über die beiden Protagonisten geärgert. Naomi hat sich seit Colts Geburt ganz und gar ihrem Sohn verschrieben. Ja, sie ist auch als Neurowissenschaftlerin tätig, aber ihre Persönlichkeit, ihr eigenes Wesen und ihre Interessen hat sie ganz und gar zurückgestellt. Ihr Leben ist geprägt von Rücksicht auf ihren schwierigen Sohn, der nicht selbstständig leben kann. Er braucht sie, aber gleichzeitig ist er so unnahbar und distanziert, dass Naomi eigentlich nur eine einfache Dienerin ist.
Als Colt einmal dem Tode nah ist, legt sich Naomi schon eine Giftspritze bereit, um sich selbst zu töten, denn ohne Colt hätte ihr Leben für sie keinen Sinn mehr. Ich bin selbst keine Mutter und kann diese Liebe und Sorge nicht nachvollziehen. Diese Selbstaufgabe ist aber auch einer der Gründe, warum ich gar nicht Mutter werden will.
Später, als Colt sich mit Naomis Hilfe etwas ändert, stellt Colt sie dann immer wieder als dumm und unmündig dar. Da hat sie fast zwei Jahrzehnte für ihn gesorgt und ihn buchstäblich gefüttert, damit er am Leben bleibt, hat ihm seine Erkrankung so angenehm wie möglich bereitet – und dann behandelt er sie auf einmal als unmündiges Kind, dem man die – für ihn – einfachsten Dinge erklären muss. Wenn „Rücksicht“ ihr Motto im Umgang mit Colt ist, dann ist es bei ihm umgekehrt „Ungeduld“.
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Connect – Wertung
Ein Buch zu bewerten, das ich bis zur Hälfte unmotivierend fand und das erst im späteren Bereich all seine Brillanz beweist, ist nicht so einfach. Wie soll eine Note das abbilden? Es würde sich eine Durchschnittsnote ergeben, die aber nichtssagend wäre, weil dieses Buch kein Durchschnitt ist.
Deswegen beziehe ich mich auf das „nullte Kapitel“, das ich oben zitiert habe. Dort steht: Keine Sorge, am Ende wird alles klar werden. Und das stimmt. Das Buch ergibt Sinn, auch die erste Hälfte. Nur weiß man das am Anfang noch nicht. Ich bewerte aber nicht als genervte Leserin am Anfang, sondern als Leserin, die das ganze Buch kennt.
Die Bestnote von fünf Sternen kann es trotzdem nicht geben, auch wenn ich einige Passagen in diesem Buch wirklich herausragend gut fand.
Connect ist letztlich so gut, weil Julian Gough es perfekt versteht, sich in verschiedene Figuren hineinzuversetzen und die Welt, teilweise auch sehr analytisch, aus ihren Augen zu betrachten und zu beschreiben. Egal, ob Autist, oder Frau, die sich aus Notwehr vergewaltigen lässt (klingt komisch, ergibt aber Sinn!), oder – mehr möchte ich nicht verraten :D
» So funktioniert die Buchbewertung
Ich bedanke mich bei Randomhouse und beim Bertelsmann-Verlag, der mir das Buch zur Rezension überließ. Meine Meinung zum Buch wurde nicht durch das geschenkte Exemplar beeinflusst!