7.07.1912: Die Ferienstickerei und das Nachthemd im Rucksack

Juli ist Urlaubszeit! Auch zur Zeit des Kaisers. Ich hab mal wieder einen Blick in die historischen Zeitungen geworfen: Diese beiden nachfolgenden Zeitungsartikel aus der Berliner Volkszeitung des Jahres 1912 stehen direkt auf dem Titelblatt. Vielleicht gab es sonst nichts Wichtiges – auf jeden Fall sieht man, dass man im bürgerlichen Berlin ganz im Urlaubsmodus angekommen war.

Es gibt einen Artikel für Frauen (von einer Frau!) und einen für Männer. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein :D Ich finde sie aber beide irgendwie süß.

Straßenszene in Berlin 1912, Alexanderstraße
So sehen übrigens die potentiellen modernen Berliner aus: 1912 Berlin Alexanderstraße | Quelle: Wikipedia

Ich hab beide Beiträge ganz abgeschrieben, das Foto der Originalzeitung gibt es ganz unten. Die Artikel sind recht lang, ich finde aber, sie lesen sich gut. Stellen, die ich besonders hervorhebenswert finde, sind fett markiert.

Die moderne Frau stickt nur in den Ferien

So, erstmal: Frauen aufgepasst! Der Artikel richtet sich an die moderne, berufstätige Frau, die selbstverständlich keine Zeit für Handarbeiten mehr hat (und auch nicht fürs Träumen von „Ihm“). Die Autorin lässt durchblicken, dass Sticken beim Kaffeekränzchen ja wohl für bürgerliche Kaffeekranz-Mütter- und -Töchter (natürlich blond) ist. Die moderne Frau möchte natürlich auch noch Sticken, um der Einrichtung einen eigenen Touch zu verleihen, aber das geht nur noch in den Ferien.

Deswegen muss man darauf achten, bei der Wahl der handwerklichen Arbeit nur Materialien zu verwenden, die sich schnell einrollen und widerstandsfähig gegen plötzlichen Platzregen und sandige Strände sind.

Also: uffbasse!

Handarbeiten für die Reisezeit.

Von Else Levin.
Handarbeiten? Welche Frau, die im modernen Berufs- und Erwerbsleben steht, hätte heutzutage noch Zeit und Gelegenheit, langwierige Handarbeiten selbst anzufertigen. Mühselige Sticheleien, Augenpulver in Kreuz- und Stielstich, gehören in die Kleinstadt, wo behäbige Bürgerfrauen und blonde Töchter beim dampfenden Kaffee und „eigengebackenen“ Kuchen zu einem gemütlichen Schwätzchen zusammenkommen, wo die Mädchen vorläufig nichts anderes als „nur Haustöchter“ sind, die mehr oder minder praktische Handarbeiten in dem sogenannten Hamsterkasten ansammeln, dabei von „Ihm“ träumend, der von ihrem Fleiß eintzückt, sie einst ins eigene Heim führe, auf das die unzähligen Deckchen und Schoner endlich eine würdige Stätte finden mögen.

Das moderne Mädchen hat keine Zeit zum Träumen, die moderne Frau keine Muße zum Kaffeeschwätchen, und nur auf gut gemalten Boldern bringen sie dem eigentlich etwas süßlichen Kleinstadtidyll noch ein gewisses Interesse entgegen.
Und doch gibt es durchaus moderne Frauen, die gern nach e i g e n e r Wahl irgendein Kissen, eine Decke ausführen möchten, Arbeiten, die von eigenem Geschmack zeugen, denen man die persönliche Note ansieht. Das ist um so begreiflicher, als gerade die „heutige“ Frau ganz entschieden ihre Selbstständigkeit betonen muß und gerade dann, wenn es sich um „Ausstattungsstücke“, die zum Schmuck der Wohnung dienen, handelt, will die Berufsfrau mit Recht ihre Eigenart zur Geltung bringen.

Und weil ihr so verhältnismäßig wenig Zeit für Handarbeiten und dergleichen zur Verfügung steht, darf sie die seltenen Mußestunden nicht mit überflüssigen mühseligen Sticheleien ausfüllen.

Die meisten Frauen heben sich das Handarbeiten für die Reise resp. für die Ferien auf. Dagegen lässt sich im allgemeinen nichts einwenden, doch darf der Fleiß nicht übertrieben werden, man soll nie vergessen, daß die Erholungsfrist als solche auch wirklich ausgenutzt werden muß. In gebeugter Haltung am Stickrahmen oder angestrengten Augen durch kleinliche Stichelei oder Benzinqualm mißhandeln, – das kann man beim besten Willen nicht eine Ausspannung des ganzen Körpers nennen.

Die modernen Handarbeiten resp. deren Entwürfe tragen dem allgemeinen Zeitmangel insofern Rechnung, als sich die Techniken sehr vereinfacht haben, und ganz besonders das Material hat vielfache Aenderungen erfahren. Starkfädige Leinewand, großbes Rupfen, nordische Stoffe in den verschiedensten Farben und Preislagen, das sind die Grundmaterialien, die, mit möglichst waschbaren Garnen und Seide verarbeitet, sich besonderer Beliebtheit erfreuen, denn heutzutage erstreckt sich der praktische Sinn naturgemäß auch auf die Handarbeiten. Und wenn es sich gar um das „Mitnehmen“ auf die Reise handelt, so eignen sich so heikle Dinge wie helles Tuch oder feine, empfindliche Seide ganz bestimmt nicht dafür. Ferienarbeiten muß man zusammenrollen können, sie dürfen vor allem nicht viel Platz einnehmen, und schon aus diesem Grunde verzichte man auf das Ausführen von großen Läufern, Decken usw. Wie leicht wird man nicht im Walde beim Handarbeiten von einem tüchtigen Platzregen überrascht! Da gilt es, schnell zusammenzupacken, auf ein paar Kniffe und Falten darf es hierbei nicht ankommen. Eine elegante Flügeldecke aus schwerem Atlas ließe sich eine solche Behandlung allerdings nicht bieten. Dagegen kann eine einfache Kissenplatte aus Leinen oder chinesischer Seide, mit Waschgarn oder -seide bestickt, schon ein paar Tropfen vertragen, auch Madeiraarbeiten sind nicht so heikel, und was die wieder so sehr modern gewordenen Häkelspitzen anbelangt, so wissen alle, die sie nach der Wäsche gesehen haben, daß sie etwas aushalten.

Daß man sich am sandigen Stand nicht ausgerechnet mit Perlarbeiten beschäftigt, ist außer aller Frage. Applikationen, Brandmalereien, Batiken, Schnitzereien und ähnliche kunstgewerbliche Erzeugnisse lasse man, schon der vielen dazu gehörigen Utensilien wegen, die viel Platz im Koffer einnehmen, zu Hause, sie eignen sich wirklich nicht zum Zeitvertreib für die Ferien.

Dagegen werden Stickereien und Häkeleien – diese allerdings nicht im übertragenen Sinn – mit Recht bevorzugt; darüber sind sich nicht nur die modernen Berufs- sondern auch die Hausfrauen klar, und wenn manche das wenig unterhaltende St r ü m p f e s t o p f e n in die Ferien verlegen, so sind sie in jeder Beziehung zu bedauern.

Gewöhnlich nimmt man Handarbeiten nur als praktischen Zeitvertreib für die eventuellen Regentage mit, und in diesem Sinne wollen wir allen Frauen wünschen, daß sie möglichst wenig Gelegenheit haben mögen, sich damit zu beschäftigen, und daß die angefangenen Kunstwerke wohlverwahrt während der ganzen Dauer des Aufenthalts den tiefsten Grund des Koffers zieren mögen.

Quelle: Berliner Volkszeitung, 7. Juli 1912, Seite 1

Nur das Nötigste in den Rucksack!

Der Beitrag für die Männer liest sich ganz anders. Auch er ist halb ein Ratgeber, halb eine Produktrezension. Es geht ums Wandern, und Gegenstand des Beitrags ist der neue „Schnerser„-Rucksack. Sehr modern, sehr rückenschonend. Ein Klick auf den Link lohnt sich, dann siehst du, wie das Teil aussieht. Da krieg ich schon beim Ansehen Schmerzen ^^

Der Beitrag hat einige Trage- und Packtipps. Besonders süß find ich, dass Nachthemd und Morgenschuhe zu den unbedingt notwendigen Artikeln für die Wanderung zählen :D

Des Wanderers bester Freund.

Der lederne Seitenranzen, der auf dem Rücken zu tragende Tornister, der so unbequem auf den Schulterblättern sitzt und dessen schmale Riemen oft auf die Dauer unerträglich einschneiden und drücken, sie gehören der Vergangenheit an. Der heutige Tourist schwört auf den R u c k s a c k, den „Schnerser“, der aus den Alpenländern seinen Siegeszug durch die ganze Welt angetreten hat und überall herrscht, wo Wanderlust und Wanderfreude zu Hause sind.

Er ist tatsächlich das idealste Bergungsmittel für den Wandersmann und sein bester Freund. Er liegt da auf, wo er am wenigsten Beschwerden verursacht: im Kreuz, dem unteren Teile der Wirbelsäule. Seine breiten Trageriemen verhindern jeden Druck auf die Schulter und Achsel, so daß man selbst mit einem sehr schwer gepackten Rucksack tagelang wandern kann. Nach einigen Stunden tiefen Tragens empfiehlt es sich, auf eine halbe Stunde etwa die Trageriemen kürzer zu schnallen, so daß der Rucksack kurze Zeit hoch, d. h. mehr nach den Schulterblättern zu liegt; man wird dadurch gezwungen, die Schultern zurückzubiegen, die vorher allmählich nach vorn gesunken sind.

Natürlich empfiehlt sich die Anschaffung eines dauerhaften, solide gearbeiteten, w a s s e r d i c h t e n Rucksacks. Bester Drell, derbstes Segelleinen sind die geeigneten Stoffe. Eine Klappe über der zusammengeschnürten Oeffnung verhindert das Eindringen der Nässe von oben. Sehr angenehm ist es, wenn der Rucksack sich verschließen läßt, man kann ihn dann mit der Post vorausschicken. In diesem Falle sind statt der Schnur die verlängerten Trageriemen durch den oberen Rand gezogen, und da, wo sie nach dem Zusammenziehen der Oeffnung zutage treten, durchlocht. Ein Schnappschloß, das hier durch die übereinander gelegten Löcher gesteckt wird, ermöglicht den Verschluß.

Das Innere des modernen Rucksackes ist durch Zwischenwände in mehrere Abteilungen geteilt, auf daß nicht Wäsche, Schokolade, Zigarren, Seife usw. zu einem wüsten Chaos durcheinander purzeln. Das ist praktisch. Noch empfehlenswerter ist das Mitführen einiger dauerhafter Leinenbeutel – ausgediente Geldbeutel leisten ausgezeichnete Dienste, wecken allerdings gleichzeitig wehmütige Erinnerungen -, in denen man die Füllung des Rucksacks verstaut: einen Beutel für Nahrungsmittel, einen für Nachthemd und Reservewäsche, einen für Kleinigkeiten, einen für die Schuhe oder Reservestiefel. Das ermöglicht ein schnelles Ein- und Auspacken.

Und nun die Hauptsache: man ü b e r l a d e den Rucksack und sich selbst nicht. Wenn man Wanderer sieht, die den oft von der liebenden Gattin mit allerlei Ueberflüssigkeiten vollgepfropften Rucksack im Gewicht von 30 und mehr Pfund im Schweiße ihres Angesichts bergauf, bergab schleppen, stöhnen und schimpfen, so empfindet man tiefes Mitleid mit diesen Opfern der falschen Vorsicht und Sorgsamkeit. Je weniger Gepäck den Rücken belastet, desto leichter wandert es sich durch die schöne Welt. Der Rucksack soll nur das N o t w e n d i g s t e für einen oder höchstens mehrere Tage enthalten. Also Nachthemd, eine Garnitur Wäsche zum Wechseln, Reservestrümpfe, Morgenschuhe, die notwendigsten Toilettengegenstände, einige Taschentücher, Zigarren oder sonstiges Rauchbares für den Raucher, einige Tafeln Schokolade, ein Stück Dauerwurst, eine Rolle Kakes [? bin mir nicht sicher, vielleicht Kakes wie „Cakes“, also Kekse – vielleicht wie Prinzenrolle?] als erfahrener Proviantler einsamer Bergwanderungen. Alles andere, dessen man auf längeren Fußreisen bedarf, Reservestiefel, Anzug, Wäsche sendet man mit der Post im Fünfkilopaket oder im kleinen, leichten Koffer voraus.

Die an vielen Rucksäcken beliebten flachen Außentaschen sind unpraktisch und überflüssig. Das Wanderbuch trägt man zum jederzeitigen Gebrauch in den Seitentaschen der Joppe, das Kursbuch findet seinen Platz im Rucksack. Und nachdem du deinen besten Freund solchergestalt bestellt hast, lieber Wandersmann, ziehe mit leichtem Gepäck und frischem Mut hinaus ins Weite!
G. S.

Quelle: Berliner Volkszeitung, 7. Juli 1912, Seite 1
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