30.11.1878 – Tuschelnde Töchter und ihre vorweihnachtlichen Sorgen

Hach, es ist wieder soweit. Morgen ist der erste Dezember. Zeit für das erste Türchen am Adventskalender – und natürlich der alljährliche Stress, alle Lieben mit Geschenken zu versorgen. Da freuen sich die Geschäfte auf die Umsätze (wobei, dieses Jahr soll das Weihnachtsgeschäft wohl gedämpft ausfallen). Und wie war das damals, als es weder Kaufhäuser noch den Versandhandel gab?

Der Beitrag „Weihnachtsarbeiten“ in der Zeitung Lokomotive an der Oder (erschienen in Oels, heute Oleśnica) vom 30.11.1878 bringt etwas Kerzenlicht ins Dunkel. Er berichtet davon, wie der „gestrenge Hausherr“ Getuschel der Frauen tolerieren muss, wenn sie über Geschenke beratschlagen. Über die Sorgen der Töchter, die so viel zu sticken zu haben. Über aufregende Heimlichkeiten in der Vorweihnachtszeit. Aber auch darüber, dass sich die Töchter allzuoft durch ihre Stickereien bei Kerzenlicht die Augen kaputt machen – für Geschenke, die den Beschenkten vielleicht gar nicht gefallen.

Lokomotive an der Oder, Seite 3, Vermischtes

[Weihnachtsarbeiten] Vier Wochen vor Weihnachten sind „Heimlichkeiten erlaubt“. Dieser alte Satz wird fort und fort in den Familien heilig gehalten und jedes Jahr zur Weihnachtszeit aufs Neue wieder in Erinnerung gebracht. Der so gestrenge Hausherr ist sonst kein Freund von „Tuscheleien“. Gegenwärtig aber muss er es leiden, wenn die Fräulein Töchter mit der Mama die Köpfe zusammenstecken und mit geheimnisvoller Miene beratschlagen. Er muss außerdem täglich genau die Stunde seiner Rückkehr bestimmen, damit er die Seinigen bei ihren Heimlichkeiten nicht überrascht. Eine große Sorge trägt das blonde Hausbesitzer-Töchterchen mit sich herum. Wie ist sie doch gewöhnt, sonst so sorgenfrei in den Tag hinein zu leben. Da steht nun einmal Weihnachten vor der Thür. Großpapas Hauskäppchen ist noch kaum beendet und die Börse für den Papa noch in den ersten Anfängen. Bruder Studio [„der Herr Student“] hat sich eine Cereviskappe [Mütze für Studenten, Info und Dank an Heiko aus den Kommentaren] bestellt, und die Mama soll ein neues Ruhekissen haben. Und der Herzallerliebste? – Sie sind ja noch nicht öffentlich verlobt, also muß diese Heimlichkeit noch geheimer gehalten werden, als die übrigen. Das arme blonde Goldfischchen mit ihren schweren Sorgen um die Weihnachtsarbeiten, welche ihre kleinen Hände in den wenigen Wochen noch vollenden sollen, hat wohl kaum eine Ahnung davon, daß unter einem Dach mit ihr noch viel kleinere Hände mit noch viel sorgenvollerem Fleiß noch mehr Weihnachtsarbeiten fertigen müssen.
Leider aber fehlt zu den oft überaus mühsamen Handarbeiten in dieser Jahreszeit das Licht der Sonne. Das durch trübe Wolkenschleier verkürzte Tageslicht währt auch nur wenige Stunden, und so muß denn das meiste bei Gas-, Lampen- oder Kerzenlicht angefertigt werden. Von diesen Weihnachtsarbeiten seien vorzüglich diejenigen erwähnt, welche in der Gebiet der Tapisserie [Stickereien im weitesten Sinne, Info] gehören. Jede geneigte Leserin weiß gewiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig dergleichen Arbeiten beim Lichtschein anzufertigen sind, weil man blau von grün und rosa von hellgelb schwer zu unterscheiden vermag; hierzu kommt noch das Abzählen auf dem oft sehr feinen Stramin [Stick-Grundlage, Info] oder dem gemalten Muster. Dies verursacht gesunden Augen Schwierigkeiten, wie vielmehr schwachen Augen.
Die so mühsamen, das Augenlicht schädigenden Arbeiten sind oftmals ganz unzweckmäßig oder dem Geschmack des Empfängers nicht entsprechend, und die Geberin opfert leider nur zu oft die eigene Sehkraft ihrer Augen. Die „Deutsche Hausfrauen-Ztg.“ [zu finden hier] erzählt ausführlich einen Fall, in welchem die Tochter eines Beamten durch eine mühsame Perlenarbeit beim flackernden Stearinlicht [Stearinkerzen, Info] nahe daran war, zu erblinden und nur mit Mühe gerettet werden konnte. Die gute Tochter mußte dann die schönen Weihnachtstage in der Dunkelstube verbringen, und ihre Augen blieben schwach bis auf den heutigen Tag. Die unvollendete Stickerei wird von den Eltern seither stets mit Wehmuth betrachtet — So wohltuend es für die Eltern sein mag, wenn Kinder ihre Liebe durch eine mühevolle Arbeit bethätigen, so sollen sie doch ihre Töchter zur Vorsicht mahnen.

Transkription des Beitrags

Offenbar hält sich auch heute noch der Mythos, dass schlechtes Licht die Augen ruiniert. Da ist aber nichts dran. Die gute Tochter musste völlig umsonst Weihnachten in der Dunkelstube verbringen.

Der Beitrag liest sich interessant, finde ich. Er ist natürlich nur ein Beispiel für vorweihnachtliche Traditionen und ich weiß nicht, wie üblich das alles ist. Aber in diesem Beitrag bekommen wir Einblicke in bürgerliche Familien am Ende des 19. Jahrhunderts. Allerdings sind diese Einblicke sicher auch für die Zeit vor fast 150 Jahren ziemlich klischeehaft – die blonde Tochter, der studierende Sohn, die tuschelnden Frauen, der gestrenge Hausherr. Das bildet natürlich nicht jede Familie ab.

Insgesamt scheint es mir fast, als würden wir hier in eine Erzählung schauen, in eine Art idealisierte Familie. Sie kann es sich leisten, den bzw. die Söhne zum studieren zu schicken und mehrere Töchter sorgenfrei in den Tag leben zu lassen. Der Vater scheint nicht in Schicht zu arbeiten, vielleicht ist er Beamter oder Angestellter in einer Bank. Wahrscheinlich wird ihm der Sohn irgendwann nachfolgen, während die Tochter, das „arme blonde Goldfischchen mit ihren schweren Sorgen“ bald den Herzallerliebsten heiraten wird.

Die Verantwortung der Töchter zu Weihnachten ist klar definiert, sie haben dafür zu sorgen, dass – wer, nur die Männer laut Text? – zu Weihnachten mit mühevoll selbst gemachten Geschenken bedacht werden. Laut Text machen die Töchter das gerne und so aufopferungsvoll, dass man sie schon davon abhalten muss, sich selbst zu schaden.

Ich frage mich, wie viel Wahrheit in diesem Text ist. Und gleichzeitig finde ich es faszinierend, wie wenig Zeit doch eigentlich vergangen ist, seit es solche klischeehaften Rollenbilder gibt – dafür müssen wir ja nicht mal so weit zurückgehen wie hier. Eine ideale Familie in den 1950ern wird vielleicht gar nicht so viel anders ausgesehen haben. Aber immerhin hatten sie besseres Licht.

Aber hey, auch ich werde mir die Augen ruinieren. Bei flackernder Monitorbeleuchtung werde ich mich kurz vor Weihnachten durch die virtuelle Auslage einschlägiger Websites scrollen, auf der Suche nach den passenden Geschenkideen. Die armen Augen!

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