„Alle diese Sorgen und Bedenken werden heute wieder lebendig“

Der Blick in die politischen Nachrichten dieser Tage und, verschärft, in Twitter und die dort weitergeführten Grabenkämpfe, erfüllt mich immer wieder mit Sorge. Vor wenigen Tagen hat die AfD in der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl 20 Prozent erreicht.

Ich persönlich hatte gedacht, dass die Umfragewerte der Partei mit rechtsextremen Verbindungen nach Corona wieder sinken werden. Aber die AfD, unterstützt von Blättern wie der BILD, hält durch Lügen und Verzerrung eine stetige Krisenstimmung aufrecht. Das ist ja auch die Taktik der AfD: Die Stimmen aufgehetzter Bürger einzufahren.

Dazu kommen fast schon tollwütig agierende konservative Politiker, teilweise im Wahlkampfmodus, die AfD-nahe Parolen wiedergeben – ich denke vor allem an Söder, Merz, Aigwanger und Kretschmer. Zuletzt hatte Merz im ARD-Sommerinterview eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene eingebracht. In diesem Video gibt es den Wortlaut und eine kurze Einordnung zu den jüngeren Aussagen der CDU.

Merz‘ Taktik zielt wohl darauf ab, der AfD durch salonfähigen Populismus Wähler abzuluchsen. Offenbar ist aber das Gegenteil erreicht: Der Volksverpetzer bespricht eine Studie, nach der eben dieser Populismus der CDU/CSU der AfD immer neue Wähler zuspielt. Der Volksverpetzer ist ein Blog, der Fake News richtigstellt und Hintergründe dazu recherchiert. Diese Arbeit finde ich unglaublich wichtig.

Das alles jedenfalls ist der Grund für meine Sorgen zur politischen Zukunft. Ich habe das Gefühl, dass zur Zeit viel auf Messers Schneide steht. Ich bin auch nicht immer glücklich mit dem Kurs der Regierung, schätze die demokratische Grundordnung, die uns unglaublich viele Freiheiten bietet, aber sehr.

Wenn Populisten die Zukunft hier bestimmen würden, würde mir das viel Angst machen. Und ich gehöre nicht mal zu den Gruppen, die am meisten darunter leiden würden (z.B. queere & trans Menschen, Geflüchtete, Deutsche mit Migrationshintergrund).

Mit diesen Sorgen im Kopf kam ich jedenfalls auf die Idee, mal zu schauen, was Zeitungen 1933 schrieben, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Das ist zwar Thema des Geschichtsunterrichts, aber das ist bei mir doch schon ein Weilchen her ^^ Wie war die Stimmung? Was erhoffte man sich, was befürchtete man?

Reichspräsident von Hindenburg ernannte Hitler, nachdem mehrere Regierungen aufgeben mussten – Hitler wurde also nicht regulär gewählt. Weitere Hintergründe dazu kannst du hier nachlesen.

Ich hab mehrere Zeitungen angeschaut und kann nicht alle wiedergeben. In der „Vossischen Zeitung“ aus Berlin, Ausgabe vom 30.01.1933, habe ich ein paar Passagen gefunden, die ich besonders interessant fand.

„Die Vossische Zeitung war eine überregional angesehene Berliner Zeitung, deren Erscheinen 1934 wegen erheblicher Druckausübung durch den NS-Staat eingestellt werden musste. Sie vertrat die Positionen des liberalen Bürgertums. In der Berliner Presselandschaft nahm sie eine historisch begründete Sonderrolle ein: Sie war – über ihre direkten Vorgänger – die älteste Zeitung der Stadt.“

Quelle: Wikipedia

Die Zeitungsausschnitte zeigen einerseits, dass die Ernennung Hitlers überraschend kam und die Redaktion ihr tief besorgt gegenüberstand – zurecht, wie wir wissen. Manche der Sätze, die man hier lesen kann, wirken im Hinblick auf die tatsächlich eingetretene Zukunft fast schon prophetisch. Andererseits erinnert mich viel aus der Zeitung 1933 an die Situation heute. Ich hoffe, wir wiederholen nicht unsere Fehler.

Schauen wir uns das mal an.

Nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen die Verfassung gemacht

Hier hebt die Zeitung hervor, warum man wegen Hitlers Ernennung so besorgt war:

Der Autor schreibt, dass der neuen Regierung „Persönlichkeiten angehören, die aus ihrer Feindseligkeit gegen den Reichstag, aus ihrer Gegnerschaft gegen die Staatsform, aus ihrer Abneigung gegen die Verfassung, nie einen Hehl gemacht haben, und deren ganze politische Arbeit auf die Beseitigung der parlamentarischen Kontrolle und der Verfassung von Weimar gerichtet ist„.

Hier muss ich zwangsläufig an die AfD denken, auch wenn ich nicht weiß, ob die Beseitigung der parlamentarischen Kontrolle ihr Ziel ist. Immerhin gilt sie laut Verfassungsschutzbericht 2022 (siehe Seite 88) als rechtsextremistischer Verdachtsfall und die „Junge Alternative für Deutschland“ als „gesichert rechtsextrem„. Unter den vor ein paar Monaten wegen eines geplanten Putsches festgenommenen Typen aus der Reichsbürgerszene befindet sich auch eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete. Dass Parteipolitiker Höcke offen rechtsextrem ist, versteckt er nicht mal.

Jedenfalls – einer solchen Partei, der NSDAP, hat Reichspräsident von Hindenburg 1933 umfangreiche Macht verliehen. Meine Güte.

Hier steht dann auch: „In diesem Kabinett ist unzweifelhaft Hugenberg die stärkste Persönlichkeit, zumindest die stärkste Willenskraft. Wir geben uns keinen Augenblick einer Täuschung darüber hin, was wir von ihm zu erwarten haben„.

Zu Alfred Hugenberg sagt Wikipedia: „Mit seinem Hugenberg-Konzern, einem Medienkonzern, der die Hälfte der deutschen Presse kontrollierte, trug er mit nationalistischer und antidemokratischer Propaganda maßgeblich zur Zerstörung der Weimarer Republik bei„. Hitler kam auch durch Propaganda an die Macht (womit wir wieder wie oben bei Lügen und Verzerrung sind).

Unbehagen, Zweifel, Sorge um die nächste Zukunft

Im folgenden Ausschnitt, einer kurzen Einordnung zur Ernennung, gibt es auch einige interessante Passagen.

Zeitungsausschnitt mit gelb unterstrichenen Passagen
Kommentar zur neuen Regierung in der Vossischen Zeitung am 30.01.1933

Zurecht pessimistisch: „Welche Garantien bestehen, dass der nationalsozialistische Führer die Macht, die ihm übertragen worden ist, nur im Rahmen der Verfassung und auf dem Boden der Rechtsordnung ausüben wird?“ – Ob Hitler sich an seinen Eid auf das Grundgesetz halten wird, davon „wird viel abhängen für Reich und Volk.“ Hitler hatte dann nicht lange gefackelt und schon im März desselben Jahres die gesamte Regierungsgewalt faktisch übernommen.

Die wichtige Rolle von demokratischen Politikern, die Faschisten legal ins Amt hieven, war auch damals bekannt: „Die Hauptverantwortung trägt vor der Geschichte der Reichspräsident von Hindenburg„. Das klingt schon ganz so, als wüsste man, dass das, was Hitler machen wird, später mal die Geschichtsbücher füllen wird, und genauso ist es ja auch. Und alles geht darauf zurück, dass Hindenburg eingeknickt ist, dazu siehe weiter unten mehr.

Dazu noch eine kleine Vorstellung von Hitler:

Kurzer Abschnitt, mit dem Hitler vorgestellt wird
Hitler „beanspruchte immer wieder, auf legalem Wege an die ausschlaggebende Stelle zu kommen“.

Schaurig-faszinierend finde ich, dass Hindenburg zweimal mit Hinweis auf Hitlers verfassungsfeindliche Einstellung die Ernennung und Zusammenarbeit mit Hitler abgelehnt hat. Bis er ihn dann eben doch ernannt hat. Dazu habe ich im Artikel weitere Passagen markiert.

Hier musste ich an die häufigen Beteuerungen der „Brandmauer gegen rechts“ denken: Keine Zusammenarbeit mit der AfD. Bis eben der Merz daher kommt und die Brandmauer nach und nach einreißt. Bis eine Zusammenarbeit doch möglich ist. Und 2025 dann eine schwarz-blaue Koalition in der Bundesregierung? Isoliert könnte die AfD gar nichts reißen. Es braucht also auch heute Steigbügelhalter.

„Alle diese Sorgen und Bedenken werden heute wieder lebendig.“

Vossische Zeitung zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler

1933 bezieht sich das auf die Sorgen und Bedenken bzgl. der Ernennung Hitlers als Reichskanzler. Heute bezieht sich dieser Satz auf 1933. Ich dachte, wir hätten das Thema hinter uns, und trotzdem steht eine als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte Partei bei 20 %.

Auch im folgenden Ausschnitt sehe ich Parallelen: „In einem Augenblick stärkster sozialer Spannungen, die nur durch sorglichsten und schonendsten Ausgleich der widerstrebenden Kräfte erträglich gemacht werden könnten, wird ein Kurswechsel vollzogen, der als Kampfansage wirken muss„.

Auch wir befinden uns heute durch Klimawandel und Ukrainekrieg in einer Phase gesellschaftlicher Spannungen. Und statt, dass die demokratischen Parteien an einem Strang ziehen, kuscheln CDU/CSU mit der AfD, ernennen die Grünen zum Hauptgegner, schießt Söder gegen die Regierung und stellt die FDP den eigenen Partnern ein Bein nach dem anderen.

Und so gibt es damals wie heute „Unbehagen, Zweifel, Sorge um die nächste Zukunft„.

Der Artikel endet dann wiederum prophetisch mit „Die Zeichen stehen auf Sturm„. Dass der Sturm eine Reichskristallnacht, einen Holocaust, einen Weltkrieg mit 60-80 Millionen Toten und die Zerstörung zahlreicher Städte mitbringt, hätte sich der Autor sicher nicht auszumalen gewagt.

Das alles hilft nicht sehr viel dabei, meine heutigen Sorgen zu mildern. Ich hoffe, ich bin einfach nur pessimistisch. Bis 2025 kann sich viel ändern. Vielleicht ist auch alles gar nicht so schlimm. Twitter bläht viel auf, das vielleicht eigentlich gar nicht so wichtig ist.

Andererseits zeigen Studien, dass viele Menschen – verständlicherweise – gar nicht mehr ständig Negatives über Krieg und Katastrophen hören wollen. Sie schotten sich ab. Und die Gefahr besteht, dass sie dann nur das wahrnehmen, was sie direkt tangiert, z.B. Preiserhöhungen. Wer sich nicht mit den Hintergründen befasst, wählt eher Populismus, weil die genau in diese Kerbe schlagen, obwohl sie auch keine besseren Lösungen haben.

Ich war lange „ungültig-Wählerin“ (weil: Politiker alle doof), aber seit 2021 bin ich wieder dabei. Jetzt nicht zu wählen ist meiner Meinung nach brandgefährlich.

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert