Carys Davies – West

Dieses Buch erhielt von Lucyda 3 Sterne

Weiße Flecken auf der Landkarte regen die Fantasie an. Was könnte dort sein? Als den Europäern bewusst wurde, dass Columbus einen ganz neuen Kontinent entdeckt hatte, muss das wie ein Magnet gewirkt haben. Die Aussicht auf unbekannte Schätze lockte Schatzsucher und Staatsoberhäupter an, die hier schnell ihre Macht erweitern wollten. Aber es folgte auch eine wahre Welle an armen Auswanderern, die sich in Nordamerika mehr Land und weniger Repressalien erhofften.

Und wenn es dort Schätze und Land gibt, warum dann nicht auch Wunder, die sich bisher niemand auch nur vorstellen konnte? Auf einem unbekannten Kontinent ist schließlich alles möglich! „West“ handelt von einer Suche nach dem Unbekannten im weiten Westen Nordamerikas.

Carys Davies - West

„West“ – Die Handlung

Autor: Carys Davies
Titel: West
Erstveröffentlichung: 10. Juni 2019
ISBN: 978-363087606
Seiten: 208

John Cyrus Bellmann kam als irischer Auswanderer zusammen mit Frau und Schwester nach Nordamerika, um ein neues Leben zu beginnen. Nach der Geburt seiner Tochter Bess starb aber seine Frau. Und jetzt, zehn Jahre später, im Jahre 1815, zieht es ihn in die unbekannten Weiten des Westens.

In einem Zeitungsbericht hatte er von wundersamen Dingen im Westen gelesen – und das lässt ihn nicht mehr los. Mehrere Monate dachte er darüber nach und hat sich schließlich dazu durchgerungen, seine Tochter bei ihrer Tante zurückzulassen. Er bricht auf, um etwas zu finden, das bisher niemand jemals gesehen hat.

Er engagiert einen jungen Indianer, Alte Frau aus der Ferne, der ihn als Führer auf seiner Reise begleiten soll. Denn Bellmann ist eigentlich weder Forscher, noch Kämpfer oder Abenteurer, sondern einfacher Maultierzüchter.

Tochter Bess ist traurig darüber, dass ihr Vater wahrscheinlich Jahre weg sein wird. Aber sie lebt ihr Leben zu Hause weiter. Das Buch zeigt nicht nur die Reisen des Vaters, sondern beleuchtet auch seine Tochter daheim.

Auf der Suche nach Wunder im Westen

Auf den ersten Blick ist die Geschichte eine gute Idee. Sie hat etwas Märchenhaftes: Ein Mann bricht zu einer gewagten Suche in völlig unbekannten Landstrichen auf. Er glaubt daran, dass es dort irgendwo unglaubliche Wunder gibt, die sich niemand auch nur vorstellen kann.

Es ist die Suche eines Mannes, der schon viele Jahre zuvor einmal aufgebrochen war, um mit seiner Frau ein neues Leben in Amerika zu beginnen. Nach dem Verlust seiner Frau scheint dieser Neuanfang gescheitert zu sein. Es liegt zwar ein Ozean zwischen ihm und seiner Heimat, aber ein wirklich neues Leben hat er nicht gefunden.

Aber den Glauben daran, etwas wirklich Neues zu finden, hat er nicht aufgegeben. Im nordamerikanischen Westen könnte es schließlich alles geben. Es ist ja immerhin die „Neue Welt“, die bisher kaum jemand wirklich erkundet, geschweige denn kartiert hat.

Hier sucht Bellmann nun nachträglich die Bestätigung, dass es richtig war, die alte Heimat Irland zu verlassen. Und dass es hier wirklich eine Neue Welt gibt, mit unvorstellbaren Wundern jenseits von Haus, Stall und Dorfkirche.

Dabei ist es gleichermaßen herzerweichend als auch bitter, dass wir als Leser von Anfang an wissen, dass seine Suche vergeblich sein wird. Im Gegenteil zu Cyrus Bellmann wissen wir, was es auf dem amerikanischen Kontinent gibt … und was eben nicht.

Für uns ist die Frage nur: Was wird Bellmann unterwegs erleben? Und wann wird er sich entscheiden, zurückzukehren? Und wie wird er mit seinem Scheitern klarkommen?

Es ist keine Abenteuergeschichte

So weit, so verständlich ist der Wunsch des Mannes. Was nun zu erwarten wäre, wäre eine schöne Reisebeschreibung mit Bellmanns Erlebnissen. Dazu beschreibt Davies die Reise von Bellmann und seinem indianischen Führer „Alte Frau aus der Ferne“ aber viel zu skizzenhaft. Beispielsweise handelt sie einen Sommer („Und dann der Sommer mit Schwärmen von Schnaken, …“) und den folgenden Winter („Dann der nächste Winter und lange Tage, …“) auf nur zwei Seiten ab.

Bellmann und sein Führer folgen unbekannten Flüssen, handeln mit Indianern und Bellmann macht sich viele Gedanken über seine verstorbene Frau und seine Tochter zu Hause. Davies beschreibt aber nur kleine Schlaglichter auf einer lange, entbehrungsreiche Reise.

Zumal sie die Geschichte auch explizit damit beginnen lässt, dass Bellmann seine traurige Tochter zurücklässt. Das hilft nicht dabei, die Figur des Bellmann sympathisch zu machen. Er geht entgegen aller Ratschläge eigensüchtig auf seine gefährliche Reise, obwohl er als Vater doch für seine kleine Tochter da sein sollte. Bellmann auf diese Weise vorzustellen und ihn damit direkt zum Anti-Sympathieträger zu machen, muss doch Absicht gewesen sein.

Aber was bezweckt Davies damit, einen Vater darzustellen, der lieber auf den Spuren von James Cook & Konsorten wandeln möchte („muss“), als für seine Tochter zu sorgen? Natürlich ist die Reise Bellmanns zu großen Teilen auch eine Reise zu sich selbst. Während er unterwegs ist, findet er heraus, wohin er wirklich gehört.

Das bleibt bei dieser Figur aber blass, denn sein Motiv für die Reise ist einfach so wenig tragfähig. Schließlich ist er kein ungebundener Draufgänger, kein Mann auf Rachetour für getötete Angehörige und er macht es auch nicht für jemand anderen.

Es ist keine Geschichte über Vater und Tochter

Die Geschichte von Interstellar beginnt ähnlich. Vater Cooper muss die Familie und insbesondere seine wissbegierige Tochter zurücklassen und begibt sich auf eine Reise durch Raum und Zeit auf der Suche nach einem neuen Zuhause für die bedrohte Menschheit. Er weiß nicht, ob er seine Familie jemals wiedersieht, und es bricht ihm das Herz, seine flehende Tochter, die auch ohne Mutter aufwächst, zurückzulassen.

Der Unterschied ist nur: In Interstellar will der Vater nicht gehen, sondern er muss, weil die Menschheit aus den letzten Löchern pfeift und mit ihm hat die Expedition und damit die Menschheit und damit seine Familie die besten Chancen. Man sieht seinen inneren Kampf, als er sich von seiner Tochter trennen muss, und wie es ihn fertig macht, dass seine Tochter sich aus Enttäuschung und Trauer nicht von ihm verabschiedet, als er geht.

Bellmann dagegen geht aus eigenem Antrieb. Er hat sich dazu entschieden, ohne es zu müssen oder weil irgendwas auf dem Spiel steht. Dass seine Tochter traurig ist, stimmt ihn nicht um. Ihm ist also sein eigener Wunsch wichtiger als die kleine Tochter.

Dass er ihr auf Reisen dann immer wieder auch schreibt und sie vermisst, kann das nicht wieder gut machen, denn schließlich ist er selbst Schuld daran, er hatte es ja so entschieden und war sich der Trennung bewusst.

Es ist keine Geschichte über traurige Daheimgebliebene

Bei der Thematik, dass ein Mann seine Familie zurücklässt, um seinen eigenen, ganz persönlichen Träumen nachzugehen, kann man natürlich auch schauen, wie die Daheimgebliebenen damit klarkommen.

Dieses Thema behandelt auch das Buch „Letzte Reise“ von Anna Enquist (Provisionslink), das ich vor Jahren gelesen, aber leider nicht rezensiert hatte – hier geht es um Elizabeth Cook, die Ehefrau des berühmten Seefahrers und Entdeckers James Cook. Während sie zu Hause die Kinder aufzieht, verspricht Cook ihr nach der Rückkehr seiner mehrjährigen Reisen immer wieder, dass er nun zu seiner wirklich letzten Reise aufbrechen werde und danach endlich bei ihr zu Hause bleibe.

Aus der Perspektive von Elizabeth Cook lässt sich nun gut eine mitreißende Geschichte über eine Frau erzählen, die ihren Mann liebt und als pflichtbewusste viktorianische Ehefrau der Oberklasse auf ihn wartet. Auch dann, wenn er entscheidet, sie und die gemeinsamen Kinder immer wieder für Jahre zu verlassen. Das Buch ist wirklich gut, ich habe schwer mitgelitten, als James Elizabeth eröffnet hat, dass er doch nochmal los muss.

So eine Geschichte ist „West“ aber eben auch nicht. Bess scheint die Entscheidung ihres Vaters, „Ich muss gehen“, nicht zu hinterfragen. Sie macht ihm keine Vorwürfe, sie im Stich gelassen zu haben. Sie ist nur traurig und hofft, dass er bald zurück kehrt.

Durch das häufige Wechseln der Perspektive zwischen Cyrus Bellmann und Tochter Bess wissen wir als Leser allerdings, dass diese Hoffnung sich so schnell nicht erfüllt. Ist aber auch nicht so schlimm, denn als kleines Mädchen freut sich Bess zwar auf ihren Vater, aber sie kommt auch allein ganz gut klar, auch wenn sie sich einsam fühlt:

Seit sie nicht mehr mit Sidney befreundet war, hatte sie kaum noch jemanden zum Reden, höchstens ihre Tante und den Nachbarn Elmer Jackson, der manchmal herüberkam, auf der Weide mit anpackte und zum Essen blieb, das ihm Tante Julie als Gegenleistung für seine Arbeit zubereitete.
In ihrer Einsamkeit gewöhnte sich Bess an, Selbstgespräche zu führen. „In acht Monaten wird es Sommer, und wir werden vier neue Maultiere bekommen. Die Kartoffeln werden blühen, die Tage werden lang sein und hell, und ich werde zwölf Jahre alt.“

Bess‘ Leben ohne Vater (Carys Davies – West)

Das reißt mich als Leser auch nicht wirklich mit.

Wenn es die Männer auf das Mädchen abgesehen haben

Jetzt wissen wir also, was „West“ alles nicht bietet. Ab der Mitte des Buchs tritt aber eine Wendung auf, die wichtigen Raum einnimmt: Zwei ältere Männer werfen unabhängig voneinander ein Auge auf das Mädchen und werden zudringlich.

Der Vater lässt seine mutterlose Tochter zurück, um erfolglos in den Weiten des Westens herumzuschwirren. Die Tochter ist traurig, akzeptiert aber den Wunsch des Vaters. Und nun muss sich die Zwölfjährige der Zugriffe aus der Nachbarschaft erwehren:

Jetzt, da sie [Bess] ihn zum Haus kommen sah, wusste sie nicht genau, was passieren würde. Aber dass früher oder später etwas passieren würde, ahnte sie nun schon seit einer Weile, es war nur eine Frage der Zeit.

Carys Davies – West

Erst nach dem Buch wurde mir klar, wie unpassend und merkwürdig dieser Twist ist. Es passt einfach gar nichts zusammen. Wenn Davies hier eine Geschichte über böse Männer und unschuldige Mädchen schreiben will, wozu dann das ganze Reise-Ding? Mit Emanzipation hat das alles auch nichts zu tun, denn das Mädchen kann sich kaum wehren und muss gerettet werden.

Diese pädophile Note auf einmal fügt der Story also ein weiteres Fragezeichen hinzu: Was genau will uns die Autorin mit diesem Buch sagen?

„West“ ist alles – und nichts

Es scheint, als würde Davies mit verschiedenen Motiven experimentieren, aber keines davon trägt so wirklich. Nicht das Western-Setting (1815 gibt es eine Bibliothek in Bellmanns kleinem Kaff?), nicht die Reise und auch nicht die alten Männer, die es auf ein Kind abgesehen haben.

Entsprechend ratlos hat mich das Ende der Geschichte auch zurückgelassen. War das nun ein gutes Ende oder ein schlechtes? Gibt es eine Moral? Wer ist Gewinner, wer ist Verlierer? Hat jeder bekommen, was er verdiente?

Auf dem Buchrücken sind statt einer Inhaltsangabe große Lobesworte zum Buch zu lesen. Das Buch sei „umwerfend“, schreibt etwa The Guardian. „Ein Kleinod“, sagt The Toronto Star. Dass dieses Buch einem nicht mehr aus dem Kopf gehe, postuliert Claire Messud, Schriftstellerin.

Aber warum? Ich war eigentlich in Lektüre-Interpretationen immer ganz gut, habe immer schöne Metaphern gefunden, wenn welche verlangt wurden. Hier finde ich allerdings keine. Der Vater macht eben, was er will. Die Nachbarn auch. Und das Mädchen ist Spielball dieser Männer – es akzeptiert die Wünsche des Vaters, und die Übergriffe der Männer hat sie zumindest „schon eine Weile geahnt“.

Will Davies aufzeigen, wie selbstsüchtig der Vater (oder Männer allgemein?) ist? Durch seine Abwesenheit nähern sich die schmierigen Kerle dem Mädchen ja überhaupt erst an. Nicht nur lässt er es im Stich, er setzt es auch den Übergriffen älterer Männer aus. Dass der Vater selbstsüchtig ist, wissen wir aber schon von Anfang an. Also worauf möchte sie hinaus?

Alte Frau aus der Ferne

Mit Vater und Tochter kann ich in „West“ überhaupt nichts anfangen. Als weitere Figur bleibt nur noch der schweigsame Indianerjunge. „Alte Frau aus der Ferne“ ist ein junger Kerl, dessen Stamm aus dem Osten vertrieben und weiter nach Westen umgesiedelt wurde. Er war bei der Umsiedelung dabei, aber er „wusste nicht, was er davon halten sollte“. Somit ist das Thema Vertreibung der Ureinwohner auch abgehakt.

Und wenn Davies schon beim Zurücklassen der Familie ist:

Und als Devereux und Mr Hollinghurst [zwei Trapper bzw. Händler bei den Indianern] beschloss er [Alte Frau aus der Ferne], sie zu begleiten und seinen resignierten Vater und seine traurige Mutter hinter sich zu lassen.

Wie Alte Frau aus der Ferne seinen Stamm verließ (Carys Davies – West)

Alte Frau aus der Ferne sucht also ebenfalls sein eigenes Glück. Ohne irgendwie in Stammestraditionen oder deutlichen Abneigungen den Weißen gegenüber gefangen zu sein. Er will einfach schauen, was passiert und was das Leben für ihn bereit hält.

Der junge Indianer begleitet nun Bellmann als Führer und Helfer. Und er ist dabei durchaus bescheiden, gibt sich mit allerlei Kram, wie Glasperlen, bunten Bändern etc. als Bezahlung zufrieden. Ich mag diesen Charakter, aber auch hier ist irgendein Ziel oder eine Charakterentwicklung nicht zu erkennen.

Obwohl Bellmann und Alte Frau aus der Ferne jahrelang gemeinsam herumziehen, bleibt eine Distanz bestehen. Keiner der beiden versucht, die Sprache des anderen zu lernen und Alte Frau aus der Ferne schmückt sich am Ende genauso mit bunten Glasperlen wie am Anfang.

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Was ist also von „West“ zu halten?

Bewertung: 3 von 5 Sternen

Ich habe mir ein wenig die Rezensionen auf Amazon angesehen, die das Buch bekommen hat. Und die gehen stark auseinander. Die einen loben das Buch als sehr berührend und wortgewaltig, während die andere Riege es einfach nur schrecklich langweilig und aufgesetzt findet.

Grundsätzlich tendiere ich mit meiner Rezension in die zweite Richtung. Allerdings würde ich weder „langweilig“, noch „aufgesetzt“ sagen, sondern eher „insgesamt planlos„.

Aber ich finde das Buch nicht völlig schlecht. Trotz meiner Kritik an den Handlungssträngen liest es sich ganz gut. Die Szenen, die Davies wirklich beschreibt, anstatt in zwei Sätzen mehrere Monate abzuhandeln, sind bunt und detailreich, manchmal sogar etwas humorvoll.

Und „West“ zeigt den amerikanischen Traum. In der Realität war der amerikanische Westen 1815 zwar nicht mehr komplett unbekanntes Land, wie es im Buch vorgespielt wird. Aber grundsätzlich ist da ja was dran: Europäer landen auf einem unbekannten Kontinent. Dort könnte wer weiß was alles sein – es gibt keine Karten, keine Tausende Jahre alte Überlieferung und kaum Berichte.

Wer sagt denn, dass es dort nicht etwas gibt, was sich niemand bisher vorstellen konnte? Hier ist einfach alles möglich. Man muss nur seine Sachen packen und nachschauen gehen.

Und das ist, finde ich, eine schöne und interessante Ausgangssituation. Daher kann ich Bellmanns Neugierde auf das, was hinter dem Horizont liegt, durchaus nachvollziehen.

Dennoch fand ich es am Ende unbefriedigend, das Buch zuzuklappen. Es fühlte sich unvollständig an. Als müssten noch Fäden zusammengeführt werden, um am Ende eine Geschichte zu haben, die wirklich begeistert.

Bewertungskategorie StoryBewertungskategorie Lesespaß

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Ich bedanke mich bei der Randomhouse-Verlagsgruppe, die mir das Buch zur Rezension überließ. Meine Meinung zum Buch wurde nicht durch das geschenkte Exemplar beeinflusst!

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