Zum mehrfachsten Mal las ich kürzlich das Buch Die Nebel des Morgens von Viola Alvarez, und jedes Mal begeistert mich ihre Nibelungengeschichte wieder aufs Neue. Niemals sonst habe ich so meisterhaft beschriebene, so authentische Figuren gelesen. Es reißt mich jedes Mal mit, wie lebendig die Charaktere wirken und handeln.
Nun kaufte ich mir das Buch „Wer gab dir, Liebe, die Gewalt“, das ich heute rezensiere. Frau Alvarez hat diese Geschichte über den berühmten Dichter und Sänger Walther von der Vogelweide nach ihrer Nibelungengeschichte geschrieben und ich hoffte, dass ihr Walther mich ebenso begeistern würde. Deswegen muss sich das Walther-Buch auch den einen oder anderen Vergleich gefallen lassen, ich hoffe, mir sei verziehen :D
In diesem Buch mit dem etwas ungriffigen Namen hat sich Viola Alvarez den Sänger und Dichter Walther von der Vogelweide vorgenommen. Vermutlich haben die meisten diesen Namen schon mal vage vernommen. Walther von der Vogelweide lebte etwa von 1170 bis 1230 und war für verschiedene Herrscher dieser Zeit tätig. Viele seiner Gedichte sind überliefert, aber über den Dichter selbst weiß man kaum etwas.
Nur anhand seiner überlieferten Texte kann man auf Orte und Zeiten schließen, an denen Walther möglicherweise gewirkt hat. Das lässt Raum für Interpretation, und auch für Fiktion. Dieser Aufgabe hat sich Alvarez in ihrem Buch angenommen.
Titel: Wer gab dir, Liebe, die Gewalt
Erstveröffentlichung: 2005
ISBN: 978-3785715574
Seiten: 603
Sie nutzt die wenigen bekannten Details aus Walthers Leben sowie seine eigenen Ich-Aussagen in seinen Gedichten. Darum herum rankt sie eine fiktive Biographie – eine Art Geschichte, die „hätte sein können“ (genau wie ihre Nibelungengeschichte). Sie puzzelt aus Angaben und Stimmungen seiner Texte eine Persönlichkeit zusammen, die es so vermutlich niemals gab.
Walther von der Vogelweide lebte in unruhigen Zeiten. Nach Friedrich Barbarossas Tod entbrennt im Heiligen Römischen Reich der „Deutsche Thronstreit“ zwischen Staufern und Welfen.
Unser Dichter ist nachweislich viele Jahre an verschiedenen europäischen Höfen tätig. Dort dichtet er Loblieder auf seine jeweiligen Herrscher und gegen deren Gegner. Seine Gedichte und Gesänge dienen PR-Zwecken, sie sollen die Fähigkeiten und die Kompetenz des Herrschers hervorheben und den Gegner verspotten.
Mehrere Jahre Walther von der Vogelweide am Herzogshof in Wien, danach dichtet er am Hof von König Philip von Schwaben, einem Staufer. Später schreibt er Lobgesänge auf dessen Konkurrenzkönig, Otto von Braunschweig, und schließlich auf Friedrich II., den späteren berühmten Staufenkaiser. Dazu gesellen sich weitere Aufenthalte und Kontakte, etwa zu hohen Kirchenmännern. Also ziemlich illustres Volk.
Aber Walther von der Vogelweide schreibt auch Liebesgesänge – zunächst auf hochadelige, unerreichbare Damen, später auf einfache Frauen.
Man darf also davon ausgehen, dass Walther von der Vogelweide ein interessantes Leben hatte – nur, dass man nicht viel darüber weiß.
Wer gab dir, Liebe, die Gewalt – Die Handlung
Bei Alvarez ist Walther von der Vogelweide ein genialer Dichter, dessen Worte mächtiger sein konnten als das Schwert. Zugleich ist Alvarez‘ Walther ein zutiefst trauriger und einsamer Mann. Er scheint von Anfang an nicht in diese Welt zu passen. Als „Fahrender“, also reisender, heimatloser Künstler, ist er immer auf der Suche nach einem Ziel, nach seinem Platz im Leben.
Das Buch beginnt mit Walthers Geburt irgendwo bei Bozen. Alvarez lässt uns einen Blick in die Stube des Bauern Herrmann vom Vogelweidhof und seiner Frau Gunis werfen, die in den Wehen liegt. Schon nach wenigen Seiten wird klar, dass Walthers Mutter eine kalte, egoistische Frau ist, die weder Mann noch Sohn Liebe entgegenbringen kann. Interessanterweise sind hier die Verhältnisse genau umgekehrt zu denen in Alvarez‘ Nibelungengeschichte, wo die Männer ihre Frauen tyrannisieren.
In Walthers Geschichte leide ich schwer mit Herrmann mit, der versucht, Gunis ein guter Mann zu sein und Walther ein guter Vater, und der doch schrecklich allein ist. Walther ist ein in sich gekehrtes Kind, das mit menschlicher Nähe nicht klarkommt. Stattdessen starrt er stundenlang in den Himmel und in die Natur, und erfindet neue Wörter für das, was er sieht.
In jungen Jahren verlässt Walther mit seiner Mutter den kargen Bauernhof seiner ersten Lebensjahre und bekommt am Hof eines provinziellen Herzogs eine rudimentäre Ausbildung. Walther gilt als Sonderling, aber man erkennt sein Talent, mit Wörtern umzugehen.
Durch die Intrige des kirchlichen Hofschreibers wird Walther schließlich an den Wiener Herzogshof empfohlen und verlässt seine Heimat: Walther wird zum „Fahrenden“. Viola Alvarez schmückt Walthers Biografie mit vielen Details und Charakteren aus, damit eine glaubhafte Geschichte entsteht.
So trifft Walther noch vor seiner Abreise nach Wien auf die junge Anna, deren größter Wunsch ist, ins Kloster zu gehen. Der sonderbare Walter, der menschlichen Kontakt scheut, und die fromme Anna, die im Kloster für die Sünden ihrer Familie büßen will, fühlen sich zueinander hingezogen. Sie schließen einen Bund fürs Leben …. Aber anders, als man meinen sollte. Dafür gibt es natürlich in der Realität keine Belege.
Übrigens: Der Titel des Buchs suggeriert eine Liebesgeschichte voller Leidenschaft. Aber nein: Die Liebe im romantischen Sinne spielt in „Wer gab dir, Liebe, die Gewalt“ keine Rolle. Erwarte also keine Liebesgeschichte! Es geht vielmehr um elterliche Liebe, Freunde und Zuneigung.
Wohl aber nimmt Alvarez einige Begebenheiten aus Walthers Gesängen auf und überlegt sich, wie es dazu gekommen sein könnte. Zum wichtigen Thema wird so ein merkwürdiger Rechtsstreit am Hof König Philips, wo Walther einen Vasallen des dortigen Landgrafs anklagt, sein Pferd erschossen zu haben. Auch ein Lehen, das Walther in späteren Jahren erhält, spielt für Alvarez‘ Walther eine große Rolle.
Eine richtige „Story“, also eine Art Spannungsbogen, bietet „Wer gab dir, Liebe, die Gewalt“ nicht. Es ist eine (fiktive) Biografie und behandelt Walters Leben mit wenigen Höhen und vielen Tiefen. Das ist auch mein Hauptkritikpunkt am Buch, auch, wenn man bei einer Biografie schwerlich etwas anderes erwarten kann.
Wer gab dir, Liebe, die Gewalt – Kritik
Das Walther-Bild aus dem Codex Manesse nimmt Alvarez als Leitbild ihres Hauptcharakters. Sie beschreibt seine außerirdische Schönheit mit den blonden Locken und dem roten Kirschmund. Das Bild entstand allerdings viele Jahrzehnte nach dessen Tod – man weiß nicht, ob Walther wirklich so aussah.
Sinnierend und melancholisch sitzt er hier auf einem Stein – der für den fiktiven Walther aus dem Buch eine wichtige Bedeutung hat – und denkt nach.
Ein nachdenklicher, schwieriger Charakter
Das ganze Buch ist recht melancholisch. Es berichtet von einer lebenslangen Suche und von wenig glücklichen und erfüllten Momenten. Ich hab mich da leider auch irgendwie selbst ein wenig sehen können: Walther ist ein Charakter, der unglücklich ist, schon bevor er unglücklich ist.
Er kann nicht mit Menschen, er kann aber auch nicht ohne.
Er sehnt sich nach Anerkennung, aber er verachtet die Eitelkeit anderer.
Er sucht, aber er weiß nicht, was.
Er arbeitet, aber er weiß nicht, wofür.
Ihm rinnt die Zeit durch die Finger, und am Ende steht er da wie am Anfang: Mit nichts, was zählt.
In der Walther-Geschichte und auch bei den Nibelungen gibt es die Situation einer Liebe, die nicht sein darf – also ja, eigentlich das Thema von Minnesängern :D Die Anbetung einer unerreichbaren Frau. Um es in Alvarez‘ Worten aus ihrer Nibelungenschichte zu sagen: „Zweimal hatte Hagens Herz zu ihm gesprochen, aber beim ersten Mal hat er nicht hingehört“. Beim zweiten Mal aber schon. Walther hört gar nicht hin. Bzw. er hört hin, aber handelt nicht.
Hin und wieder folgen kurze Zwischenkapitel, nur zwei Seiten lang. Sie tragen die Überschrift: „Wenn ich ein anderer gewesen wäre“ …. und darin beschreibt Walther selbst, was er bereut. Was er anders gemacht hätte, hätte er aus seiner Haut heraus gekonnt. Vielleicht hätte er seinem Vater damals dann die Liebe zurück gegeben. Vielleicht hätte er verziehen, vielleicht hätte er mehr aus seinem Leben machen können.
Ja, Alvarez‘ Walther-Geschichte braucht eine gute psychische Konstitution. Schon in den ersten Seiten über das traurige Leben von Walthers Vater Herrmann, der zwar rein fiktiv ist, sich aber nicht so anfühlt. „Einer, der innen weint und außen hilft“, weiß Alvarez‘ Walther als Fünfjähriger über ihn zu sagen. Mich haben schon diese ersten Seiten schwer mitgenommen und hätte Herrmann, der sich nur Liebe von seinem Sohn wünscht, gern umarmt.
Und dann schafft Alvarez das Kunststück, über einen tief zerrissenen Menschen und seine Gefühlswelt zu schreiben, ohne selbst zerrissen zu sein (hoffentlich).
Ganz klar fassbar wird Walther aber nicht. Das muss er vielleicht auch nicht, schließlich macht es ihn aus, ein „Fahrender“ zu sein, und damit schwer greifbar. Walther weicht zurück, wo man als Leser schreit: Nun greif doch zu! Dein Glück ist doch nicht weit!
Ist mir der von Alvarez geschaffene Walther sympathisch? Ich weiß nicht, ich glaube nicht, dafür verstehe ich ihn nicht gut genug, auch, wenn ich mich oft in ihn hineinversetzen kann. Etwa, als ihm – wie er tatsächlich schrieb – sein Pferd getötet wird. In Alvarez‘ Buch ist Walthers Pferd Enzo sein einziger Freund. Und dieser wird aus niederen Gründen getötet. Das wirft Walther von der Vogelweide in eine schwere Depression, die ihn fortan begleitet.
Schreibstil und Figuren
Man merkt dem Buch an, dass es von Alvarez geschrieben wurde. Es gibt genügend süffisante Halbsätze, die mich voller Bewunderung ob dieses wohleingesetzten Vokabulars zurücklassen. Sie fügt brillante Details ein und schafft ganz nebenbei dadurch glaubwürdige Räume und Situationen.
Alvarez ist einfach eine meisterhafte Wortschwingerin, was sie, haha, ja nun auch irgendwie mit Walther von der Vogelweide gemeinsam hat :D
Ihr Hauptaugenmerk gilt aber zu fast 100 Prozent nur Walther, und der bleibt, wie erwähnt, schwierig fassbar. Bei den Nibelungen gelingt es Alvarez ganz hervorragend, mehrere völlig verschiedene Figuren lebendig werden zu lassen. Diese Chance bietet sich hier nicht, da die Figuren, bis auf Walther, kommen und gehen.
Aber ja, es ist ein Alvarez-Buch, und manche Charaktere hebt sie besonders hervor. Zuallererst König Philipp von Schwaben. An dieser Figur hat sie sich ausgetobt, obwohl dieser Charakter nur während einer kurzen Episode vorkommt. König Philipp ist kein schlechter Mensch. Um die richtigen Entscheidungen zu treffen, verlässt er sich auf seine Beratungen mit seiner geliebten griechischen Frau Irene-Maria aus Byzanz.
Und du meine Güte, ich habe bei Philipps erstem Auftritt schallend gelacht. Alvarez zieht den schwäbelnden deutschen König voll durch.
Irene-Maria neben sich in seinem Reiselager, ein wettergewöhntes Zelt, beheizt von drei tragbaren Öfen, kämmte sich Philipp während des Gesprächs mit einem feinen Hornkamm fortwährend den Bart. Es zog am Boden, und die feinen byzantinische Teppiche aus Irene-Marias Aussteuer, die Philipp hatte ausrollen lassen, waren von schlammigen Fußabdrücken nur so übersät. Der König wirkte besorgt. Er hielt einen Augenblick im Kämmen inne.
„I hab mer denkt“, erklärte er Walther, „dess, wenn i noch Magdeburg geh, des müscht sei, wie wenne der Heiland nach Jerusalem komme tät. So müsset Ihr des schroibet.“ Er drehte sich zu seiner herben Ehefrau: „Gell, Friedeli, des isch, wo mer beide gsagt hen.“
Irene-Maria, die in Walthers Gegenwart überhaupt noch nie ein Wort gesagt hatte, nickte bekräftigend, als verströme sie ohne Anstrengung ganze Episteln an politischen Ratschlägen, wenn niemand zuhörte außer ihrem Friedeli.
Walther verneigte sich schaudernd. Der König hatte aber noch andere Anmerkungen zur Sache vorzubringen:
„Es isch ja so,“ begann er verschwörerisch: „Mehr habet a weng Schwierigkeide mitm Kloi.“ [„Der Kleine“, der siebenjährige spätere Kaiser Friedrich II. und somit Philipps Konkurrent]
[…] „Schreibet mer ebbes gäge den Kloi,“ befahl er. „Was do, was nur für mich isch, des wo saget, des i der noie Kaisr werde müscht und sollt, gell.“ Walther verbeugte sich abermals lange.
König Philipp von Schwaben hat einen Dicht-Auftrag für Walther – Wer gab dir, Liebe, die Gewalt, S. 353
Eine Übersetzung gibts für diese schwäbischen Episoden übrigens nicht ^^ Ich find es aber eine schöne Einlage, die König Philipp menschlich wirken lässt mit seinen Sorgen um den „Kloi“ und die Zustimmung seiner Frau. Die kaum Deutsch kann – und das wenige natürlich mit schwäbischem Einschlag.
Wer gab dir, Liebe, die Gewalt – Wertung
Biografien, die derartig fiktiv sind, bergen immer die Gefahr, falsches Wissen aufzubauen. Das Buch hat mir einen Walther von der Vogelweide nahe gebracht, den es so gar nicht gab. Das muss ich immer im Hinterkopf behalten.
Als fiktive Biografie ist das Buch aber sehr gut. Alvarez‘ Schreibstil ist einfach umwerfend, auch wenn sie ihn nicht so gut ausspielen kann wie in ihrem Nibelungenbuch. Wie bei den Nibelungen ist die Geschichte insgesamt eher düster und schonungslos schmerzhaft (zumindest für mich war sie das).
In Walthers Geschichte beginnt man (ich) aber, sich Gedanken über das eigene Leben zu machen: Nun sei doch mal zufrieden, du hast es doch gut. Genieße den Augenblick, statt immer die Zukunft zu fürchten. Mach dir nicht so viele Gedanken.
Insgesamt finde ich das Buch sehr gelungen, auch wenn die Lebensgeschichte Walthers bis zu seinem Tod naturgemäß eher plätschert statt zu gipfeln.
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