Traudl Kupfer – Leben in Trümmern

Dieses Buch erhielt von Lucyda 5 Sterne

Tag und Nacht wird deine Heimatstadt bombardiert, Gebäude, die du dein Leben lang schon kanntest, gehen in Flammen auf und brechen in sich zusammen – Nachbarn und Bekannte sterben. Nachts ist an Schlaf oft nicht zu denken, da man sowieso womöglich wieder den Bunker aufsuchen muss. Das war Anfang 1945. Im Laufe des Jahres kommen stattdessen Hunger und Kälte auf.

Traudl Kupfer - Leben in Trümmern

Autor: Traudl Kupfer
Titel: Leben in Trümmern: Alltag in Berlin 1945
Veröffentlichung: 20.03.2015
232 Seiten
ISBN: 978-3944594279
Verlag: Elsengold Verlag
Bei diesem Buch ist der Name Programm: Es ist eine Sammlung von sehr kurzen bis längeren kurzen Zeitzeugenberichten über das Leben in Berlin im Jahre 1945 – also ein Leben in Trümmern.

Im Mai ist der Krieg schließlich zu Ende, die Alliierten haben das Sagen und du bist faktisch entrechtet. Wenn du eine Wohnung hast, musst du befürchten, dass du ausquartiert wirst, weil die Besatzer sie für sich requirieren – denn Wohnraum ist knapp und die Sieger wollen nicht unbedingt in zerbombten Häusern leben. Noch schlimmer geht es nur den Flüchtlingen aus den Ostgebieten, die nun an Polen und Russland gefallen sind: Die haben gar nichts mehr, können nie wieder nach Hause, sind ausgezehrt und wissen nicht, wohin.

Auch, wenn sich das Leben über den Sommer langsam wieder normalisiert – spätestens im Herbst und Winter schlagen Hunger und Kälte voll zu. Es gibt kaum zu essen, kaum Medikamente und Holz und Kohle sind nur sehr schwierig zu organisieren. Das war die Kurzfassung über das Leben in Berlin im Jahre 1945.

Zeitzeugen einer Katastrophe

Die beiden Weltkriege waren Katastrophen unfassbaren Ausmaßes – allein der zweite Weltkrieg hat rund 13 Millionen Menschenleben gekostet (alles eingerechnet: Soldaten, Opfer des Bombenkrieges, Holocaust, sonstige Massaker, Hungertote…). Immer wenn ich mich mit diesen Kriegen beschäftige (das kommt öfter vor), kann ich mir eigentlich kaum vorstellen, dass sowas wirklich passieren kann. Und dass es noch gar nicht so lange her ist. Immerhin haben unsere Großeltern, Eltern oder Urgroßeltern selbst den Krieg noch erlebt.

Oma erzählte…

Als ich klein war (unter 10), hat meine Oma oft davon erzählt. Ich habe es gehört und mir gemerkt, genau wie ich mir Geschichten über Feen und Prinzessinnen merkte… Irgendwie hört man sowas als Kind und speichert alles als „ist halt so“ ab. Geschichten über Feen und Prinzessinnen habe ich überwunden, aber der Krieg war real. Meine Oma erzählte, wie der Nachbarstochter „ein Ziegelstein in die Brust geflogen ist“, wie „die Flieger auf uns Mädchen geschossen haben, als wir auf dem Weg zur Arbeit waren uns und dann in den Graben geworfen haben“ und wie „dieser Flieger im Wald da hinten abgestürzt ist und der Pilot verbrannte“…. das alles hört man, aber .. jetzt, 25 Jahre später, kann ich mir schwer vorstellen, wie sowas wirklich Realität sein kann.

Später fragte ich meine Oma immer wieder nach dem Krieg, aber sie erzählt nichts mehr. Sie erinnert sich inzwischen vor allem nur noch an die Zeit danach, als sie „von Siegen bis nach Gießen“ gelaufen ist, um irgendwelche Sachen einzutauschen und zu hamstern. Das scheint sich in der Rückschau deutlich mehr verfestigt zu haben als der verbrannte Pilot im Cockpit.

„So war’s halt“

Naja – jedenfalls helfen Zeitzeugenberichte von Menschen, die dabei waren und den Schrecken selbst erlebt haben, uns Jüngeren dabei, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie es ist, wenn Krieg die Tagesordnung ist. Klar, die Geschichtsbücher erklären, was wann wo passiert ist. Aber sie vermitteln in der Regel den strategischen Blick und interpretieren im Nachhinein unter Berücksichtigung aller inzwischen bekannten Fakten das Geschehen. Das persönliche Erleben der einzelnen Menschen steht nicht im Mittelpunkt.

Dafür sind die Zeitzeugen da. Millionen von Interviews wurden zu unterschiedlichen Zwecken geführt, um verschiedene Aspekte des Krieges zu beleuchten, bevor die Überlebenden ihre Erlebnisse mit ins Grab nehmen.

Auch für das Buch „Leben in Trümmern“ wurden zahlreiche Interviews geführt, die von der Autorin/Herausgeberin Traudl Kupfer dann sortiert und in eine passende Form geschrieben wurden. Die Berichte ermöglichen damit einen schlaglichtartigen Eindruck vom Leben der Berliner Bevölkerung kurz vor und kurz nach dem Ende des Dritten Reichs.

Beim Lesen von „Leben in Trümmern“ dachte ich immer wieder an die Sendung mit der Maus, in der damals auch die Nachkriegszeit thematisiert wurde. Armin Maiwald zeigte Videoaufnahmen und berichtete etwa, wie seine Mutter ihm aus Kind aus einem alten Soldatenpulli einen neuen Pulli strickte.

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Eine monatliche Chronik über unvorstellbare Zustände

Das Buch ist in zwölf Kapitel untergliedert, die jeweils einen Monat behandeln. Das ist sinnvoll, denn 1945 ist ziemlich viel passiert und so unterscheiden sich die ersten Monate des Jahres deutlich von den Sommermonaten und schließlich den Herbst- und Wintermonaten. Zu Anfang eines jeden Kapitels gibt die Autorin einen kurzen Überblick über die Lage, damit der Leser die Geschehnisse überhaupt einordnen kann – etwa die Lage an der Front im Winter 1945, die Zahl der zerstörten Wohnungen, Beschlüsse der Alliierten in Bezug auf die Lebensmittelverteilung in Berlin.

Nach dem Überblick kommen dann die Zeitzeugen zu Wort. Sie erzählen aber nicht „ihre Geschichte“ (wie z.B. in Erzähl‘ es niemandem von Randi Crott), sondern berichten nur über kurze Episoden aus dem Alltag. Diese Episoden sind manchmal nur wenige Zeilen lang, reichen aber auch mal fast über eine Seite. Diese kurzen Schlaglichter reichen nicht aus, um eine Beziehung zu den Personen aufzubauen. Das ist aber auch nicht Intention des Buches – es geht ja, wie gesagt, um das Leben in Trümmern, nicht um das Leben von Marlene, Erich oder Karla.

Normalität während des Abnormalen

Damit diese fragmentarischen Berichte überhaupt funktionieren können, dürfen sie natürlich nicht die Ich-Form verwenden. Das wäre sonst ziemlich schizophren :D Traudl Kupfer hat die Berichte deswegen in die dritte Person umgeschrieben. Wie sich das liest, kannst du dir unten in den Zitaten anschauen. Dass nicht die Zeitzeugen selbst im Mittelpunkt stehen, ist daran zu bemerken, dass die Berichte auch mal von Bekannten der Zeitzeugen handeln und nicht von ihren eigenen Erlebnissen.

Die Berichte behandeln auch bei weitem nicht immer grausame Erlebnisse – denn es geht ja um den Alltag. Es kommt natürlich vor, dass von verbrannten Leichen im Nebenraum und Erschießungen berichtet wird, aber andere Episoden behandeln nur davon, auf dem Balkon eine etwas zerfetzte, aber wunderschön blühende Blume zu haben.

Für mich ist es eigentlich unvorstellbar, dass unter solchen Umständen so etwas wie Alltag überhaupt möglich ist, aber anscheinend war es so. Immer wieder gibt es Berichte, die das zeigen. Die Menschen gingen zur Arbeit – auch, wenn man dafür wegen der ausgefallenen S-Bahnen 8 Kilometer laufen musste, oder man dafür Umwege in Kauf nehmen musste, weil auf der üblichen Strecke „ganze Häuserzüge in Flammen stehen“ und die Wege mit Schutt bedeckt sind (siehe Zitat unten).

Es ist diese trockene Art, das zu erzählen: Als sei das alles normal. Ok, da brennen Häuser und alles ist voller Schutt, dann gehe ich eben einen anderen Weg. Immer wieder wird auch der Schwarzmarkt thematisiert, der natürlich verboten war, aber trotzdem ging jeder hin, um die letzten Habseligkeiten gegen ein Stück Butter einzutauschen. Dass solche Dinge wie ein Stück Butter oder ein Weihnachtsbaum aus einem Besenstiel oder eine Fleischsuppe so viel bedeuteten, zeigt irgendwie, dass Menschen nur kurze Zeit in einer allgemeinen Ausnahmesituation leben müssen, um ihre Bedürfnisse deutlich zurückzuschrauben. Wie würde es wohl heute aussehen?

Auch Bilder sind Zeitzeugen

Neben den Erfahrungsberichten der Zeitzeugen zeigt Traudl Kupfer auch Fotografien aus der Zeit. Ob sie einen Bezug zu den Personen haben, weiß ich nicht – es ist aber auch nicht wichtig. Die Text-Episoden sind teilweise schon haarsträubend genug, die Fotos untermalen das ganze noch zusätzlich.

Ein Bild zeigt eine Menschentraube vor einem Bunkereingang, von oben fotografiert. Ein weiteres eine Straße mit zerbombten Hausreihen und verbrannten Bäumen am Straßenrand. Auch Trümmerfrauen dürfen natürlich nicht fehlen. Berge von Schutt liegen herum – kaum vorstellbar, dass das alles größtenteils von Hand weggeräumt wurde. Zwei schlaksige Jungs mit abgelaufenen Schuhen tragen zusammen drei Eimer Wasser nach Hause. Ein Kriegsheimkehrer in Uniform mit Krücken und Lumpenschuhen ruht sich aus.

Leben in Trümmern – Wertung

Bewertung: 5 von 5 Sternen
Das Buch liest sich weder wie ein Roman, der durch seine Story unterhält, noch wie ein Sachbuch, das Wissen vermittelt. Es ist mehr eine Dokumentation und schafft es gerade durch die vielen Zeitzeugen und die fragmentarischen Berichte, uns Menschen im 21. Jahrhundert zu zeigen, dass wir in einer sehr friedlichen Zeit des Wohlstands leben.. Obwohl die Nachrichten mit Katastrophenmeldungen immer das Gefühl schüren, dass es uns schlecht geht.

Leben in Trümmern – Zitate

Februar 1945

Seit einigen Wochen fahren auf ihrer Strecke zur Arbeit keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr. Hannelore Künzer muss die acht Kilometer zur Landesversicherungsanstalt laufen – von der Stromstraße in Moabit über das Brandenburger Tor bis zum Köllnischen Park in der Nähe der Jannowitzbrücle. Häufig muss sie die S-Bahn-Schienen entlanglaufen, weil die Straßen voller Trümmer liegen oder weil ganze Häuserzüge brennen. Wenn sie dann später als üblich nach Hause kommt, plagt ihre Mutter zu Hause die Angst, dass ihre Tochter die Bombenangriffe nicht überlebt haben könnte.

S. 38

Juni 1945
Schon wochenlang gibt es weder Strom noch Wasser. Wie soll man so kochen? Auf dem Innenhof steht ein großer Baum, der rundum mit einem kleinen Mäuerchen umfasst ist. Dort haben Martha Scholz und ihre Tochter einen Freiluftherd gebaut, indem sie einfach einige Steine aufeinander stapelten. Auf offenem Feuer bereitet Martha dort unten im Hof nun schon seit Wochen das Essen zu.

S. 119

Juli 1945

Die Nachbarin von Ruth Andreas-Friedrich steht nicht mehr auf. Wegen des Hungers, sagt sie. Ihr Mann, ein NSDAP-Mitglied, wurde im Mai verhaftet, sie ist nun mit ihren fünf Kindern allein. Pro Tag stehen ihr 300 Gramm Brot zu, die sie unter ihren Kindern verteilt. Sie selbst hat beschlossen, im Bett zu bleiben. Das spart Kraft, Schuhsohlen und Kalorien.

S. 146

Oktober 194

Hildegard Gustmann will sich nach der anstrengenden Arbeit in den Trümmern endlich wieder einmal etwas wichtig Gutes gönnen. Für 60 Makr kauft sie sich auf dem Schwarzmarkt am Brandenburger Tor eine kleine Dose Fleisch, die sie zu Hause mit Genuss leert. „Das Döschen kann man sicher noch gebrauchen“, denkt sie und wäscht es aus. Dabei bemerkt sie auf dem Boden der Dose eine Prägung: Only for dogs.

S. 194

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