Wie viele andere auch hab ich zur Zeit große Mühe, meine Gedanken zum Krieg in der Ukraine zu sortieren. Es geht hier nicht um Politik und um die Frage, wie es dazu kam, dass Russland ein freies Land überfällt. Wann und wie oft die NATO Putin möglicherweise brüskiert haben könnte. Für mich gibt es da sowieso nur einen Schuldigen: Putin, der Mann, der seit rund 20 Jahren an Russlands Spitze sitzt. Nichts kann rechtfertigen, in ein anderes Land einzufallen und dort Städte und Menschen zu bombardieren. Nichts. Dass Putin dabei von Entnazifizierung spricht, macht die Sache fast zur Satire, wenn es nicht so traurig wäre.
Der Mensch tendiert zum Vergessen, aber ich möchte nicht vergessen, was ich zur Zeit so denke und wie entsetzt ich noch immer bin. Daher wird das hier ein absolut persönlicher und tagebuchartiger Beitrag.
Dinge, die nicht sein dürfen/können
Ich bin 40 Jahre alt und habe als gut behütete Drehstuhl-Kämpferin im Leben nicht allzu oft schockierende Momente erlebt. 2001 war ich dabei, als auf unserem Sportflugplatz ein Sturm einen großen Baum umwarf. Ich weiß das alles noch sehr genau – auch, weil ich es am Tag danach ins Tagebuch geschrieben hatte.
Ich war 19, meine Gedanken drehten sich ums Fliegen, um Spaß im Leben, dass ich seit wenigen Monaten mit meinem ersten Freund zusammen lebte, dass ich in der Ausbildung mein eigenes Geld verdiente. Es war eine Fliegerparty: Wie fast immer blieben wir Segelflugpiloten nach dem Fliegen abends noch auf dem Flugplatz, setzten uns ums Lagerfeuer. Jemand stellte sein Auto daneben und es tönte laut Musik á la „Sex and Candy“ von Marcy Playground. Natürlich gab es auch Bier und Gegrilltes. Es war auf jeden Fall was los am Lagerfeuer. Alles in funkenflugtechnisch halbwegs sicherer Entfernung zu den drei großen Linden vor den Fliegerhallen.
Im Westen sahen wir spektakulären Blitzen zu, die langsam näher kamen. Irgendwann kam ein Wind auf und mein damaliger Freund und ich wollten uns gerade auf den Weg nach Hause machen. Wir waren mit seinem Motorrad da. Aber der Wind nahm schnell Fahrt auf, Pappbecher flogen herum, Regen setzte ein. Schnell entschieden wir uns, dass es wohl doch besser wäre, uns erstmal in der Fliegerhalle unterzustellen, statt bei dem Wetter durch die Nacht zu fahren. Die Party wurde aufgelöst, alle rannten und brachten irgendwas in Sicherheit. Ich stand schon unten an der Fliegerhalle, als ich meinen Ex laut NEIN!! oder sowas rufen hörte. Ich hörte im Sturm ein lautes Knacken, drehte mich um und ….
Da lag sie, die östlichste Linde. Die weißen Stümpfe sahen in der schwarzen Nacht und dem Sturm sehr gespenstisch aus. Ich konnte es nicht fassen und schlug vor Entsetzen die Hände vor den Mund. Ich glaub, ich hab sogar geschrien. Die Linde, die große Linde, die Lothar [den Orkan Anno 2000] überlebt hat, und so viele andere Stürme, fällt bei EINER plötzlichen Böe um? Ich war richtig entsetzt, wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Kam mir irgendwie wie der Weltuntergang vor – wenn die unkaputtbaren, uralten Linden fallen, was fällt dann noch? Ich dachte, ich sehe nicht richtig, bin wahnsinnig. ES KANN DOCH NICHT SEIN, DASS DIE LINDE UMFÄLLT!! Doch nicht UNSERE Linde! Vor Schreck hab ich mich gar nicht mehr von der Stelle bewegt.
Lucydas Tagebuch, am Tag nach dem Fall der Linde, Juli 2001
Es war „nur“ ein Baum, niemand war zu Schaden gekommen. Aber ich erinnere mich sehr gut an mein Entsetzen und meine Ungläubigkeit, als ich dabei war und sah, wie etwas passierte, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Dass eine Sturmböe eine der bombenfesten Bäume einfach umweht – das machte mir bewusst, dass nicht alles so fest und stabil ist, wie man denkt. Übrigens kam später heraus, dass die Linde innerlich morsch war und der Wind daher einfacheres Spiel hatte.
Nicht mal zwei Monate später flogen Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers. Ich saß in Schockstarre vor dem Fernseher und sah live zu, vor Entsetzen und Ungläubigkeit die Hände vor den Mund geschlagen. Solche Sachen gehen einem nicht in den Kopf. Wie kann sowas passieren? Wie kann sowas in unserer Welt passieren? Das kann nicht sein, so ist doch die Welt nicht?
Solche Momente prägen.
Und dann der russische Einmarsch in die Ukraine. An den Tagen davor sieht die Welt nach Moskau und bangt. Putin erkennt die beiden ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk als eigenständige Volksrepubliken an. Es wird ein Vertrag unterzeichnet, dass Russland dort Militärbasen betreiben darf. Dass Russland das tun wird, steht wohl außer Frage, aber es gibt auch Befürchtungen, dass er nicht nur in die beiden frischen Volksrepubliken einmarschieren wird – die de jure noch immer zur Ukraine gehören -, sondern gleich in die ganze Ukraine. Mit Kyiv als Ziel…. Das kann er nicht machen, oder? Oder? Er kann doch kein fremdes Land angreifen? Oder?
Ich dachte, die Menschheit hätte gelernt?!
Ich war mal in der Ukraine. 2009, zusammen mit meinem damaligen Freund und seinen Eltern, die aus der Stadt Charkiw in der Ostukraine stammen und seit einiger Zeit in Deutschland lebten. Wir flogen nach Kyiv, schauten uns die Stadt an, stiegen abends in den Nachtzug nach Charkiw und verbrachten dort rund zwei Wochen bei den Eltern meiner damaligen Schwiegermutter. Danach ging es mit dem Nachtzug wieder zurück nach Kyiv, nochmal Stadtbesichtigung und dann wieder zurück nach Hause.
Wer sich dafür interessiert: Ich hab darüber auf meiner anderen Website www.over-the-hills.com einen Beitrag über die Ukraine-Reise geschrieben. Es gibt auch viele Fotos. Die Reise war sehr interessant, ich hatte mir bis dahin unter Ukraine nicht viel vorgestellt. Das Land ist sehr gegensätzlich: Alte, bröckelnde Plattenbauten und Sowjet-Denkmäler, aber auch fröhliches und buntes Stadtleben mit Malern auf den Straßen.
2008 waren meine damaligen Schwiegereltern sehr mitgenommen, weil Russland in Georgien einmarschierte. Ich erinnere mich, dass sie Angst hatten, dass sowas auch der Ukraine blühen könnte. Zurecht, wie wir heute wissen. Ich habe keinen Kontakt mehr zu der Familie, kann mir aber gut vorstellen, wie es ihnen geht – oder auch nicht, das muss jenseits jeder Vorstellungskraft sein.
Ob die Großeltern in Charkiw den Krieg überhaupt noch erleben, weiß ich nicht, aber wenn ja, tut es mir so leid. Die Oma meines damaligen Freundes hatte noch den 2. Weltkrieg erlebt, sie war als Kind dabei, als Deutschland die Stadt besetzte und während mehrerer Schlachten zerstörte. Wir haben Schützengräben im Wald nahe der Stadt angeschaut, froh, dass das Relikte einer vergangenen Zeit waren.
Abends am 23. Februar 2022, wenige Stunden vor der Invasion, lag ich im Bett und konnte nicht aufhören, durch Twitter zu scrollen. Man munkelte von Anzeichen für einen Einmarsch. Es war unheimlich. Man konnte auf den größeren russischen Straßen zur ukrainischen Grenze in Google Maps Stau sehen. Nachts um halb 2? Das könnten russische Soldaten mit Handys sein, die sich auf Invasionskurs befänden. Außerdem machte die Runde, dass Russland den Luftraum an der ukrainischen Grenze gesperrt habe – auch das ein Zeichen für baldige Kampfhandlungen.
Irgendwann legte ich das Handy weg und fragte mich, ob es am nächsten Morgen Krieg gäbe. Als sich das am nächsten Morgen bestätigte, hatte ich wieder meinen „Linden-Moment“. Trotz all der Befürchtungen war ich entsetzt, konnte es nicht glauben und auch nicht verstehen. Russland hatte Massen an Truppen an den ukrainischen Grenzen zusammengezogen und immer wieder beteuert, dass das nur eine Übung sei. Jetzt fahren sie über die Grenze, mit der Absicht, in einem unabhängigen Staat zu zerstören und zu töten. Wie kann sowas sein? Wie darf sowas sein?
Nach all dem, was wir aus den beiden Weltkriegen schon wussten, passiert das gleiche wieder. Unter Vorwänden wird ein Krieg vom Zaun gebrochen, Panzer rollen, Fliegeralarm, zerstörte Häuser, fliehende Zivilisten. Diese Menschen hatten bis am Tag davor noch ein ganz normales Leben. Und jetzt: Krieg.
Ich erinnere mich an die Kirchen mit goldenen Dächern in Charkiw und Kyiv. An einen bunt beleuchteten Springbrunnen in Charkiw. An den Besuch in einem Delphinarium. An eine „Kürbiskopf“-Kutsche für romantische Stadtrundfahrten. An Sonnenblumen im abendlichen Sonnenlicht vor einem Plattenbau. An viele streunende Hunde und Katzen (zwei Monate nach der Ukrainereise holte ich meine beiden Katzen Luna und Lopi von einem Bauernhof, weil ich mich in der Ukraine in eine Katze mit ihren Jungen verliebt hatte, die unter dem Trittstein zu unserem Plattenbau lebte). Ich erinnerte mich an ein Shoppingcenter mit Eislaufbahn (im August!).
Und das alles wird nun beschossen. Wie kann das sein? Wie geht das? Mit welchem Recht kann man in ein anderes Land einfallen und alles zerstören? Menschen töten und vertreiben, die nur ihr Leben leben wollen? Es muss doch Regeln geben und man kann doch nicht vor den Augen der Welt diese Regeln brechen und in ein Land einmarschieren?! Ich dachte, wir Menschen wären schlauer geworden, hätten sowas abgelegt, wären eine bessere Menschheit geworden.
In den ersten Kriegstagen vergoss ich viele Tränen. Und schaffte es kaum, mich auf irgendwas zu konzentrieren. Ich hing die ganze Zeit auf Nachrichtenseiten herum und scrollte durch Twitter.
Hilflosigkeit im Angesicht des Unrechts
Irgendwann realisiert man, dass es nun doch passiert ist. Aber das darf doch nicht ungestraft bleiben? Man muss doch was gegen Putin unternehmen? Auch als Abschreckung gegen andere Diktatoren, die vielleicht Begehrlichkeiten entwickeln könnten? Ich freute mich, dass die Welt „the shit out of Russia“ sanktionierte. Eine Woche später bombardierte Russland immer noch und meine Hilflosigkeit nahm zu. Sanktionen reichen nicht? Was dann?
Putin kann sein Gesicht nicht verlieren und MUSS gewinnen, um jeden Preis? Und Leidtragende sind die Menschen in der Ukraine. Und russische Soldaten, die teilweise scheinbar gar nicht wussten, wohin die Fahrt geht. Putin scheint alles egal zu sein. Die russische Wirtschaft liegt am Boden, Oligarchen sanktioniert, Menschen in russischen Städten auf den Straßen. Es geht dennoch weiter und das Wort „Krieg“ darf im Zusammenhang mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine nicht verwendet werden. Zensur und Haftstrafen als Mittel zum Umgang mit den Protesten.
Ich verstehe, dass der Westen nicht eingreifen darf, weil Putin schon klar gemacht hat, dass er sich nicht scheut, den Krieg noch auszuweiten. Sanktionen und Waffenlieferungen, das fühlt sich so nach Danebenstehen und Zuschauen aus. Da verkloppt auf dem Schulhof ein großer Junge einen kleinen (der sich überraschend gut zur Wehr setzt), aber niemand greift ein, niemand nimmt den großen Jungen zur Seite und gibt ihm für sein Fehlverhalten eine Schelle. Alle stehen drumrum und feuern den Kleinen an. Es ist schrecklich.
Schrecklich ist auch, dass Putin die ganze Welt in Geiselhaft nimmt. Wütend schreit er in die Welt: Haltet euch raus! Ich mache das hier alleine, und wer sich einmischt, der wird ebenfalls angegriffen. Und die Welt hält sich daran, weil Putin zuzutrauen ist, dass er eher einen Atomkrieg anzettelt, als klein beizugeben. Das ist heute die Realität auf der Welt. Putin erkennt anderen Staaten ihre Existenzberechtigung ab und marschiert ein. Ungerecht, unfair .. und trotzdem machbar.
Ich verstehe, warum Polen, Deutschland und die USA es nicht wagen, polnische Migs an die Ukraine zu liefern. Es gibt eine Verantwortung der Welt gegenüber, dass der Krieg nicht eskaliert. Aber auf der anderen Seite dieses Unrecht: Dass ein einzelner Mann sich über alles hinweg setzt, was das zwischenmenschliche und zwischenstaatliche Zusammenleben eigentlich gebietet: Respekt vor Grenzen, Respekt vor dem Leben, Macht, die nicht unbegrenzt sein kann. Jemand wie Putin macht was er will und kommt (bis jetzt) damit durch, weil sich niemand auf sein Niveau der Drohungen und der Gewalt herablassen will und kann. Und das ist so schlimm.
Es zerreißt mich: Das Verständnis dafür, dass wir keinen Atomkrieg riskieren wollen, und der Wunsch, aus allen Rohren auf diesen Misthund zu feuern.
What is the soul of a man?
Ich muss in diesen Tagen oft an den Spieletrailer für Mad Max denken, siehe unten. Das Spiel kenn ich (noch) nicht, aber ich finde, das Intro passt. Ein Mann läuft durch die Trümmer der Zivilisation und eine Stimme sagt dazu: „Das ist alles, was geblieben ist. Moral, Gerechtigkeit, Gnade – das gibt es nicht mehr.“
Der Song „Soul of a man“ ansich stellt verzweifelt die Frage, was die Seele eines Menschen ist. Es scheint eher um den spirituellen Hintergrund zu gehen (Bibelinterpretation). Ich hab den Text aber immer dann im Kopf, wenn ich mich frage: Was für Menschen wollen wir sein? Was ist richtig, was ist falsch? Wollen wir egoistisch sein? Kapitalistisch auf Geld und Macht konzentriert? Welchen Stellenwert hat Aufrichtigkeit, Transparenz und auch Gerechtigkeit? Was ist Gerechtigkeit überhaupt, und wie kann man sie durchsetzen?
Ist es besser, in einer Welt zu leben, in der ein Land quasi geopfert wird, um alle anderen Menschen vor einem kriegsgeilen Irren zu schützen? Und wird der Schutz von Dauer sein? Oder riskieren wir der Gerechtigkeit Willen einen Atomkrieg und sind dann zwar alle vom Krieg betroffen, aber haben zumindest klar gemacht, dass Unrecht nicht durchkommt?
Es zerreißt…
Noch viele weitere absurde Gedanken
Und von all diesen schrecklichen Bildern aus der Ukraine abgesehen gehen mir noch andere Gedanken durch den Kopf. Es sind vor allem viele Fragen. Sicher naiv, denn es wird bestimmt politische Antworten geben, oder die Antworten sind schon längst da draußen, bekannt durch andere Kriege.
Wer bezahlt eigentlich Angestellte im Krieg?
Was bedeutet der Krieg für Menschen wie du und ich? Gestern noch auf der Arbeit, heute auf der Flucht? Sind am 24. Februar noch Menschen im Büro erschienen, oder hat ihr Chef ihnen gesagt, dass sie nicht kommen brauchen? Gibt es überhaupt in der Ukraine gerade noch andere „Jobs“ als Besteht der Arbeitsvertrag weiterhin? Sind alle Angestellten freigestellt? Bekommen sie noch Geld? Muss man, wenn man geflohen ist, weiterhin Miete zahlen (sofern das Haus nicht zerstört ist)? Ich nehme an, sowas ist im Kriegsrecht geregelt, aber das alles ist so absurd unrealistisch.
Was ist, wenn der Krieg morgen zu Ende wäre – bestehen Arbeitsverträge weiterhin? Wer bezahlt den zerstörten Wohnraum und die zerstörten Besitztümer? Bekommen Menschen Zeit, mit der Realität umzugehen, dass ihre Heimat angegriffen und teilweise zerstört wurde? Wie lange wird es dauern, bis es in der Ukraine wieder Normalität gibt? Wann werden Call Center für Telefontarife wieder besetzt? Wann fahren wieder Cinderella-Kutschen durch Charkiw?
Wird Russland als Aggressor irgendwie für die Zerstörungen in ukrainischen Städten bezahlen? Also finanziell. Ich meine nicht Putin vor dem internationalen Gerichtshof.
Der Sinn dieses oder jedes Krieges geht mir nicht so richtig in den Kopf. Gestern noch Normalität: Arbeit, Gehalt, Familie, vielleicht Urlaub, vielleicht Sparen auf die Rente oder aufs eigene Haus. Heute alles kaputt, Familienmitglieder tot, alles zerstört, was man erreicht hat. Morgen …. einfach von vorne anfangen? Warum das Ganze..? Was für ein dummes Mittel ist Krieg eigentlich? Was bringt es Putin, all das zu tun und am Ende im besten Fall vielleicht einen Marionettenstaat zu haben mit Menschen, deren Leben er zerstört hat?
Was passiert nach dem Krieg?
Der Krieg wird irgendwann enden, die Ukraine und Russland werden sich wohl irgendwie einigen. Oder? Oder wird Russland noch einen Weg finden, die Welt weiter mit einem Weltkrieg zu erpressen und die Ukraine zu opfern? Hoffen wir es nicht.. Hoffen wir, die Dinge laufen weiter wie aktuell. (Klingt so grausam…)
Dass Russland die Ukraine einfach besetzen kann, sieht im Moment glücklicherweise nicht so aus. Das beste Outcome für die Ukraine wird wohl sein, wieder Frieden zu haben und sich stärker an den Westen gebunden zu haben. Wie wird das ukrainische Verhältnis dann zu Russland sein? Werden die beiden Länder je wieder miteinander reden können?
Ein Staatsempfang mit Putin und Selenskyj in Moskau oder Kyiv ist undenkbar, oder? Putin wollte Selenskyj ermorden lassen, bezeichnete ihn und seine Regierung als drogensüchtige Nazis. Kann man sich da ein freundliches Händeschütteln vorstellen? Irgendwie nicht. Und wie lange dauert es, bis man einen solchen Krieg „verzeihen“ kann? Ein Vergleich mit Deutschland nach dem 2. Weltkrieg würde hinken, schließlich ging die Niederlage Deutschlands glücklicherweise mit einer vollständigen politischen Transformation einher.
Wie kann die Welt nach Ende des Krieges mit Russland umgehen? Was passiert mit den Sanktionen? Werden die recht schnell aufgehoben – wegen der Wirtschaft? Oder bleiben sie bestehen? Wie lange? Was muss Russland tun, um die Sanktionen abzuschütteln? Die Sanktionen wurden ja wegen des Übergriffs auf die Ukraine ausgesprochen, und den Übergriff kann man nicht rückgängig machen. Wäre Russland ein isoliertes Land wie Nordkorea?
Und wie kann man Putin glauben oder Verträge mit ihm schließen? Wie kann man sicherstellen, dass so etwas nicht noch mal passiert?
Return of the Kalter Krieg?
Immer wieder nicht verstehen kann ich auch die Tatsache, dass der Kalte Krieg wohl zurück ist. Als Kind der frühen 80er hab ich den Kalten Krieg nur am Rande noch mitbekommen. Ich erinnere mich an gelegentliche Panzerkolonnen auf den Straßen und an Düsenjets in niedriger Höhe und Überschallknalls (schrecklich als Kind). Außerdem erinnere ich mich an eine diffuse stetige „Gefahr aus dem Osten“. Die Erleichterung meiner Eltern, als Gorbatschow russischer Präsident wurde, war spürbar.
Das war in meiner Kindheit, und seitdem bin ich und sind wir alle doch erwachsen geworden. Warum sollte man sich mit Atomkrieg drohen oder Russland als Feind sehen? Ist doch dumm, das haben wir doch zum Glück abgelegt. Warum ist das jetzt wieder da? Was bedeutet das für unser Leben? Was, wenn Trump 2024 wieder Präsident werden sollte (Hoffentlich geht er vorher in den Knast…)? Was, wenn Trump Präsident wird und die NATO verlässt? Wäre es eine reale Gefahr, dass Putin dann Westeuropa angreift?
So sehr ich als Kind die USA bewundert habe wegen ihrer Mondlandung, wegen ihres Einsatzes für Frieden und Demokratie (und gegen Nazi-Deutschland), wegen ihrer freiheitlichen Werte, so sehr hat sich als Erwachsene meine Meinung geändert. Die USA hat schwere Probleme, meiner Meinung nach ist sie aufgrund ihres völlig im 18. Jahrhundert erstarrten Regierungsapparates und des Einflusses von Fundamentalisten ein „failed State“. Aber durch den Angriff Russlands auf die Ukraine bin ich persönlich doch froh, dass es die USA gibt und dass sie uns beschützen würde.
Und ich schäme mich selbst. Noch kürzlich habe ich immer wieder stolz gesagt, wie froh ich bin, Europäerin zu sein und nicht US-Amerikanerin. Und jetzt beißt Putin um sich und ich renne metaphorisch gesehen doch schnell wieder zurück zu Papa USA.
Warum tangiert es mich so?
Ich selbst fühle mich außerdem schuldig, weil der Krieg in der Ukraine mich und so viele andere Menschen deutlich mehr mitnimmt als andere Kriege. In Syrien und Afghanistan passieren noch schlimmere Gräuel, aber das hat mich nicht so bis ins Mark tangiert. Menschen wie mir wird nun Doppelmoral vorgeworfen. Warum dieser Aufschrei beim Einmarsch in die Ukraine, und Syrien ist euch völlig egal? Dass Menschen im Mittelmeer ertrinken ist euch völlig egal?
Auch damit muss man erst umgehen. Und Antworten finden.
Traktoren, die Panzer klauen
Ein kleiner Lichtblick ist dafür der Twitter-Account „Ukrainian Meme Forces„, der im Februar 2022 vermutlich als direkte Reaktion auf den Krieg gegründet wurde. Ich weiß nicht, wer ihn betreibt, und auch wenn das alles nun wirklich nicht zum Lachen ist, gibt es dort immer wieder tagesaktuell treffende Memes. Traktoren, die russische Panzer stehlen, haben aktuell Hochkonjunktur.
Beileid und Hochachtung für russische Kriegsgegner
In Gedanken bin ich außerdem bei all den russischen Staatsbürgern auf der Welt, von denen viele auch die Welt nicht mehr verstehen. Auf Twitter las ich in den ersten Kriegstagen das Statement eines Russen.
Unsere ganze Identität basiert darauf, dass wir mit vereinten Kräften und unter hohen Opfern im Krieg die Nazis besiegt haben. Und dann wacht man eines Morgens auf und stellt fest, dass man selbst Deutschland im Jahr 1941 [dem Jahr des Überfalls des Dt. Reichs auf die Sowjetunion] ist.
Tweet eines Russen auf Englisch, den Original-Tweet finde ich nicht mehr
Das stelle ich mir hart vor. Ich als Deutsche trage immer irgendwie eine gewisse Scham oder Schuld mit mir herum, dass wir schon zwei Weltkriege angefangen haben, Millionen Juden und andere Minderheiten getötet haben. Das gehört zu meiner Identität dazu. Die Russen haben das auch, nur eben das Gegenteil, für sie ist verankert, dass sie im „Großen Vaterländischen Krieg“ die Guten waren. Und das hat sich gerade komplett ins Gegenteil verkehrt. Das muss hart sein.
Russland ist zur „Persona“ non grata geworden, Russen werden leider überall angefeindet. Dabei können sie ja nichts dafür. Ich habe so viele schockierte Russen auf Twitter gesehen, die sich schämen und das Gefühl haben, sich für ihr Land entschuldigen zu müssen.
Und dann noch die vielen russischen Staatsbürger, die sich in Russland selbst auf die Straße wagen und gegen den Krieg protestieren. Tausende Festnahmen, bis zu 15 Jahre Haft. Das Wort „Krieg“ darf gar nicht im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Ukraine genannt werden. Menschen werden verhaftet, die nur ein weißes Plakat ohne Text hochhalten, die auf einen kleinen Zettel „Zwei Worte“ schreiben (bedeutet: Kein Krieg!) oder überhaupt irgendwas in die Kamera sagen (beides hier). Die Nachrichtensender-Mitarbeiterin, die live in Russland für einige Sekunden ein Schild hochhielt, wusste sicher genau, dass ihr drakonische Strafen drohen.
Meine Hochachtung vor diesen Menschen. Und ich bin traurig, dass es in Russland soweit gekommen ist.
Heute Morgen habe ich mir auch die Website der russischen Zeitung Nowaja Gaseta (Новая Газета) angeschaut. Laut Wikipedia ist das eine der letzten unabhängigen Medien in Russland, und auf Wikipedia liest man auch, dass bereits mehrere Journalisten dieser Zeitung bis 2021 ermordet wurden. Ich kann kein russisch, aber man kann sich ja eine Übersetzung des Textes anzeigen lassen. Und wow …. sind die mutig. Sitz der Zeitung ist Moskau.
Und wow, ja, sie berichten über den Krieg in jeder denkbaren möglichen Weise. Gut, „Krieg“ dürfen sie nicht schreiben. Sie schreiben «спецоперацию», also „Sondereinsatz“, so wie die russischen Behörden es verlangen. Oder statt dem Wort Krieg schreiben sie „…. [von den russischen Behörden verbotenes Wort]“. Aber sie berichten über die Proteste gegen den Krieg, sie berichten aus der Ukraine, sie berichten aus einem Pariser Flüchtlingslager für Ukrainer, sie berichten von Müttern, die sich um ihre wehrpflichtigen Söhne in der Ukraine sorgen.
Dazu gehört richtig Mut. Denn all das ergibt ein deutliches und sehr emotionales Bild dessen, was die eigene Regierung anrichtet. Und genau das will die Regierung ja nicht sehen.
Bei uns dann gleichzeitig Menschen zu sehen, die sich mit Anne Frank und Juden im Dritten Reich vergleichen, weil sie eine Maske tragen sollen, ist der Hohn schlechthin. Die Welt ist so absurd.