Revolution des Zuschauens: VR-Kurzfilm Crow – The Legend

„Zuschauen“ ist ein ziemlich langweiliges Wort, das nicht annähernd zutrifft, wenn du einen VR-Film … – ja, was? Anschaust? Autsch! Direkt neben dir springt auf einer Waldlichtung ein Stinktier aufgeregt auf und ab und himmelt dabei einen bunten Vogel an, der mit Swing-Stimme singend zwischen den Baumkronen herumfliegt. Ist das noch zuschauen? Ein Zuschauer ist jemand, der passiv aus der Distanz beobachtet, was passiert: Nur gucken, nicht mitmachen, und am besten still sitzen. Die Distanz ist beim Zuschauen ganz wichtig: Ein Zuschauer kann per definitionem einfach nicht selbst am Geschehen teilhaben, weil es eine Barriere gibt, die ihn daran hindert.

Ich glaube, der Begriff „Zuschauer“ wird im Filmkontext in nicht allzu langer Zeit ausgedient haben. Gestern habe ich den 20-minütigen Animationsfilm Crow – The Legend angeschaut. Der Film wurde für Virtual Reality-Brillen wie Oculus Rift und HTC Vive entwickelt. Bei einem solchen VR-Film allerdings von „anschauen“ oder „zuschauen“ zu sprechen, ist grobe Vereinfachung. Hier sind wir nicht „Zuschauer“, wir sind mitten drin! Erleber ist vielleicht ein besserer Begriff (auch, wenn er blöd klingt), denn wir schauen nicht reglos zu, sondern wir überwinden die Distanz zum Geschehen und nehmen Farben, Licht, Bewegungen und natürlich auch Geräusche von allen Seiten wahr. Wir sind selbst mitten drin! Über die Begrifflichkeiten muss man einfach reden, finde ich :D

Crow - The Legend

Indianer-Legende über eine bunte Krähe

Crow – The Legend ist eine vollwertige VR-Animation mit hochkarätigen Sprechern (unter anderem Oprah Winfrey – und nur auf englisch) und basiert lose auf einer indianischen Legende. Beteiligt war auch der Direktor des bekannten Animationsfilms Madagaskar. In knapp 20 Minuten erzählt der Film die Legende, wie das Feuer auf die Erde kam, lange, bevor die ersten Menschen auftauchten. Auf die Story möchte ich gar nicht weiter eingehen – dafür ist sie auch zu kurz :D Hauptfigur ist eine Krähe mit leuchtend buntem Gefieder und schöner Singstimme, aber auch ein Stinktier, eine Eule, eine Motte, eine Schildkröte sowie die Sonne, der Mond und „Er/oder sie, der alles durch Denken erschafft“ sind mit von der Partie.

Für sich ist Crow – The Legend … nett. Ein niedlicher und hochwertig produzierter Animationsfilm für 7-10jährige (schätze ich :D). Wer will, kann sich hier die normale „profane“ Version anschauen – aber es ist nicht der Kurzfilm als solcher, der so toll ist, sondern das VR-Erlebnis, wenn man die entsprechende Hardware zur Verfügung hat! Für Rift gibt es die VR-Version kostenlos im Oculus-Store.

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Darum ist ein Kurzfilm mit einfacher Story so erlebenswert

Crow bezieht dich als Erleber rudimentär mit in die Handlung ein: Zu Beginn befindet ihr euch auf einer friedlichen Waldlichtung und der Erzähler spricht dich direkt an: Du bist der „Geist der Jahreszeiten“. Mit deinen Händen, die hier als Zweige dargestellt werden, wedelst du herum und erschaffst damit erst den Sommer und später den Winter. Ansonsten bist du … sagen wir … Zeuge der Geschehnisse. Es läuft tatsächlich eine Handlung ab, aber du befindest dich zusammen mit den Figuren mitten drin. Du kannst dich in der Umgebung umschauen und die Handlung findet um dich herum statt.

Müßig außerdem zu betonen, dass die animierten Figuren und auch die Umgebung einfach echt wirken. Du hast – wie das in der Virtual Reality eben so ist – einfach das Gefühl, dich jetzt! persönlich! hier vor Ort! zu befinden, in einer kindlich-animierten Umgebung, zusammen mit sprechenden Tieren. Die direkt neben dir stehen, auf Augenhöhe, und dich manchmal auch direkt anschauen. Durch die hohe Immersion, also das „Eintauchen in eine andere Welt“, ist VR an sich viel faszinierender als jeder Film oder jedes Spiel auf einem flachen Bildschirm. Denn selbst, wenn du in einem Videospiel eine Figur steuerst, schaust du trotzdem nur auf einen Kasten. Die Distanz zum Geschehen ist durch dein Eingreifen kürzer, aber du kannst sie nicht ganz überwinden, weil deine tatsächliche, reale Umgebung jederzeit präsent ist.

Deswegen ist ein Animationsfilm für Zehnjährige in der VR auch für Erwachsene spannend und interessant – selbst, wenn du dich nur in der Umgebung umschaust und dich freust, hier zu sein :D In Crow gibt es Sequenzen mit Musik, in denen die Handlung Pause macht und nur irgendwelche Gegenstände oder Figuren umherfliegen. Was mich sonst, z.B. bei den Musical-Einlagen in Walt Disney-Filmen, immer störte, ist hier interessant und spannend, weil das alles direkt um dich herum passiert. Ich glaube, das Gehirn muss verarbeiten, dass alles real wirkt, obwohl es nicht real ist :D Deswegen ist es so faszinierend. Und im übrigen nicht im geringsten mit einem 3D-Film im Kino vergleichbar!

Wie geht es weiter mit VR-Filmen?

Nach Crow – The Legend, meinem ersten VR-Film, sehe ich aber auch, dass es bei zukünftigen VR-Filmen noch viel zu bedenken gibt. Ein VR-Film muss ganz anders aufgebaut werden als ein normaler Film. Allein schon deswegen, weil der Regisseur bei einem normalen Film weiß, wohin der Zuschauer in der Regel schaut: Nach vorne, auf den Bildschirm. Und dort präsentiert man per raffinierter Kameraführung und Perspektivwechsel die Handlung. In der Virtual Reality ist der Bildschirm aber überall, da sich der Zuschauer „mitten drin“ befindet und seine eigenen Kamerafahrten macht. Also muss die Handlung den Blick führen, damit der Erleber auch bei chaotischen Szenen weiß, wo überhaupt gerade die Bühne ist. Wie kann das immer gelingen?

Crow - The Legend
Wieso sieht die Sonne so verschlafen aus? :D

Nicht zu unterschätzen ist aber auch, ob der Erleber sitzt oder steht. In voll immersiven Erlebnissen, die die gesamte 360°-Umgebung nutzen, stehe ich lieber, weil man sich dann besser umschauen kann. Im Sitzen ist man zu mehr Passivität verdammt. 20 Minuten stehen ist auch ok, aber wenn nun ein Film oder Erlebnis 30-45 Minuten dauert, dann möchte sich der eine oder andere auch mal hinsetzen. Zu lange stehen ermüdet ja doch :D Im Sitzen hat man als Erleber aber eine ganz andere Perspektive als im Stehen. Wenn du neben einer Personengruppe stehst und ihr Gespräch verfolgst, dann befindest du dich auf Augenhöhe. Im Sitzen schaust du ihnen auf die Bäuche. Wie geht man als Regisseur damit also um?

Crow - The Legend
Auf Augenhöhe mit den virtuellen Figuren

Und mich interessiert auch, ob der Erleber in Zukunft noch weiter in die Handlung einbezogen wird. Bei Crow hat man nicht viel zu tun außer ein bisschen herumwedeln. Aber daran sieht man schon, dass die Grenzen zwischen Spiel und Film verwischen. Ein Film, dessen Ablauf/Länge vom Zuschauer beeinflusst wird, ist kein reiner Film. Vielleicht wird es Filme geben, die so funktionieren wie Dialoge in aufwändigeren RPG-Spielen wie The Witcher: Der Erleber bekommt Entscheidungsmöglichkeiten und beeinflusst durch sein Handeln den Ausgang des Films. Aber dann ist es mehr ein Spiel als ein Film.

Jedenfalls – Crow macht sehr neugierig auf die kommenden Entwicklungen in Sachen VR-Filme :D

Hier geht es zur Crow-Website und hier zur Anwendung im Oculus-Store.

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