Dieses Buch ist besonders und passt nicht recht in eine Schublade. Im Grunde handelt es sich um eine Art Biographie der beiden wichtigen preußischen Wissenschaftler Gauß und von Humboldt. Beide tragen im 18. und 19. Jahrhundert mit völlig unterschiedlicher Herangehensweise ihren Beitrag zur .. ja, zur Erforschung und Vermessung der Welt bei. Das ergibt eine amüsante und informative Mischung :D
Erstauflage: 2005
Seitenanzahl: 302
Sonstiges: Verfilmt (Die Vermessung der Welt, Ende 2012 im Kino)
Review online seit: 30.11.2012
Inhalt. Der Autor nimmt sich die beiden weltbekannten preußischen Forscher Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß vor, die Ende des 18. Jahrhunderts gelebt haben und schreibt sozusagen eine doppelte Biografie der beiden. Beide Forscher haben komplett unterschiedliche Lebensläufe und begegnen sich im Buch erst als Senioren, Kehlmann wechselt daher immer zwischen der Perspektive des Mathematiker Gauß‘ und der des Forschungsreisenden von Humboldt’s.
Er beginnt von Kindheit der beiden an und endet im Alter. Von Humboldt schlägt sich dabei durch das Amazonas-Gebiet und über hohe Gebirge, wo er exakte Landkarten zeichnet, Messungen durchführt und Zeichnungen unbekannter Pflanzen und Tiere anfertigt. Gauß bleibt lieber zu Hause, arbeitet an seinem Lebenswerk – den Disquisitiones Arithmeticae, das nach 5 Jahren bereits in jungen Jahren abgeschlossen ist und ist dann ebenfalls unter anderem als Landvermesser tätig.
Bei von Humboldt begegnen uns merkwürdige Situationen mit Einheimischen und wie er quasi nebenbei neue Erkenntnisse über die Welt sammelt, während wir uns bei Gauß damit auseinandersetzen, wie er, der geniale Denker, im richtigen Leben klarkommt.
Das Buch orientiert sich an den realen Lebensläufen der beiden historischen Persönlichkeiten, er Autor gibt jedoch zu, dass es ihm nicht um das Schreiben weiterer wissenschaftlich korrekter Biographien ging. Er hat hin und wieder Details verändert oder Situationen frei erfunden, und vieles auch ganz weggelassen.
Kritik. Im Vergleich zu anderen Romanen ist dieser hier recht besonders. Es gibt nicht wirklich eine Spannungskurve oder eine Art Hinarbeiten auf einen Showdown. Es fällt mir auch schwer, das Buch in ein Genre zu stecken, Historischer Roman ist vielleicht nicht ganz richtig. Die Stärke des Buchs ergibt sich aus dem Schreibstil des Autors und dessen humoristischer Umgang mit völlig schrägen Situationen. Zum Schreibstil: es fällt sofort auf, dass es keine wörtliche Rede gibt, Kehlmann jongliert mit dem Konunktiv wie kein anderer. Siehe dazu unten in den Zitaten ^^
Inhaltlich passiert zwar in Sachen Spannung nicht sehr viel, und auch die Abenteuer Humboldts sind relativ trocken erzählt. Meiner Meinung nach geht es hier aber auch weniger um die Handlung, sondern mehr um das Erforschen der beiden Charaktere. Die Unwirklichkeit, wenn Humboldt trotz Massen von Moskitos, Kannibalen und Todesgefahr immer der völlig korrekte Preuße bleibt, der seine Messungen durchführt. Man bekommt das Gefühl, dass er grade deswegen überlebt, weil er sich so dreist und ehrlich benimmt. Es muss getan werden, also wird es getan. Sein – je nach Perspektive – Assistent oder Mitarbeiter Bonpland wirkt dagegen schon viel menschlicher, und man kann sich in den abwegigen Situationen gut vorstellen, wie der arme Bonpland wegen Humboldts Korrektheit immer wieder die Augen verdreht.
Gauß dagegen ist ein völlig anderer Charakter und schaut wegen seiner überragenden Denkfähigkeit immer etwas von oben herab auf die Menschen. Er kommt auch dadurch immer wieder in Situationen, die auf ihre Weise genauso abwegig wirken wie die, in denen Humboldt sich immer wieder befindet.
Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert, allein wegen seines Schreibstils.
Wertung.
Letztendlich fehlt doch irgendwie Spannung und eine Pointe, oder eben doch „Handlung“, obwohl eigentlich genug passiert. Obwohl ich den Schreibstil absolut klasse finde, und allein dadurch Lesespaß gegeben ist, fesselt einen das allein nicht wirklich ans Buch. Trotzdem empfehlenswert als nette Lektüre, und außerdem bildet sie, wann liest man sonst über Humboldt oder Gauß ^^
Zitat: Seite 9
Im ersten Kapitel reist Gauß zu einer wissenschaftlichen Konferenz nach Berlin, sein Sohn Eugen begleitet ihn.
Die Fahrt war qualvoll. Er nannte Eugen einen Versager, nahm ihm den Knotenstock ab und stieß mit aller Kraft nach seinem Fuß. Eine Weile sah er mit gerunzelten Brauen aus dem Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn keiner, wo sei das Problem?
Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und wollte nicht antworten.
Raus mit der Sprache, sagte Gauß.
Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei nicht eben hübsch.
Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch.
Eugen gab ihm das, welches er gerade aufgeschlagen hatte: Friedrich Jahns Deutsche Turnkunst. Es war eines seiner Lieblingsbücher.
[…]
In der Deutschen Turnkunst ging es um Gymnastikgeräte. Ausführlich beschrieb der Autor Vorrichtungen, die er sich ausgedacht hatte, damit man auf ihnen herumklimmen könne. Eine nannte er Pferd, eine andere den Balken, wieder eine andere den Bock.
Der Kerl sei von Sinnen, sagte Gauß, öffnete das Fenster und warf das Buch hinaus.
Das sei seines gewesen, rief Eugen.
Genauso sei es ihm vorgekommen, sagte Gauß, schlief ein und wachte bis zum abendlichen Pferdewechsel an der Grenzstation nicht mehr auf.
Zitat: Seite 195
Humboldt ist auf einem Schiff vor Südamerika unterwegs.
Unterwegs hatte eine Eruption des Vulkans Cotopaxi einen Sturm ausgelöst, und da der Kapitän Humboldts Ratschläge ignoriert hatte – er mache das seit Jahren, und es widerspreche dem Seerecht, seinen Navigator zu kritisieren, Besatzungsmitglieder könnten dafür aufgeknüpft werden -, waren sie weit vom Kurs abgetrieben. Damit der Sturm nicht ungenützt vorbeiging, hatte Humboldt sich fünf Meter über der Wasseroberfläche an den Bug binden lassen, um die Höhe der von keiner Küste gebrochenen Wellen zu messen. Einen ganzen Tag hatte er dort gehangen, von der Morgenstunde bis in die Nacht, das Okular des Sextanten vor dem Gesicht. Danach war er zwar leicht durcheinander, aber auch rot, erfrischt und fröhlich gewesen und hatte nicht begreifen können, warum die Matrosen ihn von da an für den Teufel gehalten hatten.