Die heutige historische Nachricht ist genau 119 Jahre alt und ich war überrascht, als ich sie gelesen habe. Erstens, weil ich nicht gedacht hätte, dass dieses Thema damals schon ein „Thema“ war. Und zweitens, weil ich darüber hinaus nicht gedacht hätte, dass es auch noch Gerichte beschäftigt.
Das Thema ist im weiteren Sinne „Food Design„, und ich dachte, das wäre ein Symptom industrieller Fertigung. Food Design ist heute eine ganz eigene Branche. Dabei geht es darum, Lebensmittel ansprechend zu gestalten. Das Auge isst ja mit, daher sollte Essen nicht aussehen wie schon mal gegessen.
Fischstäbchen und Chicken Nuggets sind Beispiele, aber auch Ketchup und Saftkonzentrat. Da wird alles geschreddert, neu geformt, mit Geschmacksverstärkern, Salz und Zucker angereichert, evtl. noch gefärbt, und am Ende hat das Essen nicht mehr viel mit dem zu tun, woraus das Zeug ursprünglich bestand.
Gesund ist das nicht, und appetitlich auch nicht, wenn man sich bewusst macht, was da alles verarbeitet wird. Da hilft nur, möglichst viel frische Lebensmittel zu kaufen und sie selbst zu verarbeiten.
Himbeersaft mit Kirschsaft auffrischen
1901 stand die Fließbandfertigung und damit die Massenindustrie erst noch am Anfang. Ich hatte die romantische Vorstellung, dass damals das Brot vom Bäckermeister stammte und nicht aus der Bäckerkette, bei der die Verkäufer nur noch die vorgefertigten Teigteile in einen Ofen schieben. Dass Fleisch vom Bauernhof stammte und nicht aus der Massenfleischproduktion (Stichwort Tönnies). Insgesamt glaubte ich, dass in dieser Zeit Produkte eher Handarbeit waren und eine „echtere“ Qualität hatten: Keine Aromastoffe, keine Zusätze, keine Tricks.
Der untenstehende Beitrag zeigt aber, dass es nur eine romantische Vorstellung war. Warum soll man nicht schon 1901, oder auch 1501 oder gleich 1 n. Chr. nicht schon Produkte ansprechender gestaltet haben, damit der Kunde sie kauft?
Aber die Nachricht ist auch darüber hinaus interessant. Denn sie zeigt, dass diese Praxis schon damals für Unmut sorgte. Es sei eine Täuschung der Konsumenten, wenn ihnen alter Himbeersaft als frischer präsentiert werde, als er tatsächlich ist.
Gegen die Schankwirte und Destillateure, welche gefärbten Himbeersaft feilhalten und verkaufen, wird zur Zeit von der Behörde energisch vorgegangen. Fast täglich finden deswegen vor den Schöffgerichten Verhandlungen wegen Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz statt. Der gerichtliche Sachverständige Dr. Bischoff begutachtet stets, dass ein Zusatz von Himbeere zu einer Weißen in Berlin [damit ist wohl das damals sehr verbreitete Berliner Weißbier gemeint] vielfach gebräuchlich sei. Um dem Himbeersaft eine etwas lebhaftere Farbe zu geben, pflege der Fabrikant ihm etwas Kirschsaft zuzusetzen, und wenn dies in mäßiger Weise geschehe, pflege dies nicht beanstandet zu werden.
Etwas anderes sei es dagegen, wenn ein künstlicher, wenn auch unschädlicher Farbstoff zur Anwendung gelange. Es werde dadurch in dem Publikum der Anschein einer besseren Beschaffenheit erweckt und Himbeersaft, der durch langes Lagern an seiner Farbe eingebüßt habe, solle dadurch den Anschein eines frischen Saftes gewinnen. Dies sei zweifellos eine Täuschung.
Der Verein der Destillateure hat sich der Sache angenommen und schickt stets mehrere Gegen-Sachverständige ins Feld, welche den Standpunkt vertreten, dass der Himbeersaft nur als Färbemittel und nicht als Genussmittel anzusehen sei. Der Vorsitzende des Gastwirtschaftsvereins, Herr Kuckenburg, führte kürzlich in einer Verhandlung an, dass der Saft einer Weiße mit Himbeer, die nicht genügend gefärbt sei, einfach zurückweisen würde mit der Behauptung, dass überhaupt kein Himbeer darin sei. Der Vorsitzende hielt dem Gutachter vor, dass dies ja gerade dafür spreche, dass das Publikum durch den Farbzusatz getäuscht werden solle.
Er möge das Publikum darüber aufklären, dass der wesentliche Bestandteil der Himbeerfrucht nicht die rote Farbe, sondern das Aroma sei. Wenn das missbräuchliche Färben aufhöre, werde das Publikum nach und nach auch zu einer vernünftigen Einsicht kommen. Da auch das Kammergericht in einem Falle zu Ungunsten eines Angeklagten entschieden hat, so erfolgt stets ein verteilendes Erkenntnis [sic].
Eigentlich gäbe es eine vernünftige Lösung..
Ich bin mir nicht zu 100 % über diese Geschichte klar, aber ich interpretiere es so: „Berliner Weiße“ ist ein spezielles Bier aus Berlin, das wohl damals (wie heute) wegen des Geschmacks gerne mit Himbeersaft gemischt wurde. Und um dessen Farbe geht es hier. Der „alte“ Saft ist genauso lecker, aber er verliert durch Lagerung seine frische rote Farbe.
Deswegen wird nachgeholfen. Damit der Himbeersaft nicht nur sein Aroma mitbringt, sondern auch eine schöne Farbe, wird entweder Kirschsaft zugesetzt (was ok wäre), oder eben künstliche Farbstoffe, was unter Täuschung fällt.
Als Lösung wird vorgeschlagen, dass man die Gäste einfach darüber aufklären sollte, dass es nicht auf die Farbe ankommt, sondern auf den Geschmack. Wenn die sich erstmal daran gewöhnt haben, dass auch blasser Himbeersaft lecker ist, ist es gar nicht mehr so wichtig, ob der Saft nun frisch aussieht oder nicht.
Tja, ich fürchte, letztlich ist aus dieser vernünftigen Idee nichts geworden, wenn man sich anschaut, was für komisches krankes Zeug die Lebensmittelindustrie uns heute so präsentiert. (Ich will gar nicht dran denken, was alles in Gummibärchen drinsteckt..)