Yeah, wieder ein Thema, das (mir) hierzulande völlig unbekannt war! Es geht um den weit ausufernden und letztlich gewalttätigen Streit zwischen Arbeitnehmern und dem Arbeitgeber in den USA am Ende des 19. Jahrhunderts.
Wobei, letztlich kommt es im Kapitalismus immer aufs Gleiche raus – das hatten wir in Europa ja auch genauso: Jemand mit Macht interessiert sich nicht für das Wohl der ihm Unterstellten und wundert sich dann, dass die sich wehren.
Konkret haben wir hier als Arbeitgeber die „Pullman Palace Car Company“, ein Unternehmen in Chicago, das sich auf den Bau von luxuriösen Eisenbahn-Waggons spezialisiert hatte, die Pullman-Waggons. Trotzdem, dieser sogenannte Pullman-Streik ist schon herausragend und sagt auch viel sowohl über den Kapitalismus aus als auch über die heutigen Zustände in den USA.
Am Besten schauen wir uns heute erstmal die Quelle an – die ist schon recht lang und vielsagend :D Unten drunter habe ich dann noch ein paar Zusatzinfos.
Der Eisenbahnarbeiteraufstand in Nordamerika.
Es ist kein gewöhnlicher Streik mehr, sondern eine Revolte, die sich jetzt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika abspielt. Die Bewegung hat unheimliche Dimensionen angenommen; aus dem Ausstande ist ein wirklicher Aufstand geworden, der wirtschaftliche Kampf ist mehr und mehr zu einer wirklichen Kriegführung übergegangen. Schon jetzt scheint die Lage schlimmer zu sein, als jemals bei einem der großen amerikanischen Streiks, von denen einzelne durch die dabei verübten Gewalttaten eine traurige Berühmtheit erlangt haben.
Der Streik der Eisenbahnbediensteten in Nordamerika, der den Verkehr in dem großen Gebiete der Vereinigten Staaten vom atlantischen Ozean bis zum stillen Ozean (Pazifik) und vom Norden bis zum Süden fast ganz lahm zu legen und eine schwere soziale und innere Krisis herbeizuführen droht, ist aus einem an sich geringfügigen Anlasse entstanden. Der Streik hat seinen Anfang genommen in Chicago, in den Werkstätten des großen weltbekannten Waggonfabrikanten Pullmann. Die Arbeiter der Pullmannschen Waggonfabrik gerieten mit der Verwaltung der Fabrik in Lohndifferenzen.
Pullmann beschäftigt ungefähr 4000 Arbeiter, und diese verlangten eine Wiedererhöhung ihres Lohnes auf den Satz, auf welchem derselbe vor Eintritt der vorjährigen Krise stand, die eine Herabsetzung der Löhne zur Folge hatte. Die Arbeiter erhielten eine abschlägige Antwort. Nun ist Pullmann von jeher unter der arbeitenden Klasse der Vereinigten Staaten äußerst unbeliebt gewesen, weniger seiner vielen Millionen Dollars wegen, als durch sein barsches und unfreundliches Auftreten im Verkehr mit seinen Untergebenen und durch sein Verwaltungssystem, dass die Bedienung und Kontrolleure der Pullmann-Wagen (palace cars) statt auf regelmäßige Bezahlung auf Trinkgelder anweist.
Von den Werkstätten der Pullmannschen Waggonfabrik aus verbreitete sich der Streik bald mit großer Raschheit über weiteste Kreise von Arbeitern, die irgendwie im Dienst von Eisenbahnen beschäftigt waren. Die Pullmann-Wagen, welche auf allen amerikanischen Eisenbahnen kursieren, wurden boykottiert, um so den Besitzer derselben zur Nachgiebigkeit seinen Arbeitern gegenüber zu zwingen; entweder suchte man die Züge, in welchen Pullmannwagen eingestellt waren, am Auslaufen zu hindern, oder die boykottierten Wagen wurden abgekoppelt, was bei Expresszügen mit einem Aufhalten des gesamten Wagenverkehrs gleichbedeutend ist.
Diesem Boykott und Streike der Arbeiter setzten die Eisenbahngesellschaften – die amerikanischen Eisenbahnen sind nämlich sämtlich im Privatbesitze großkapitalistischer Gesellschaften – in gleicher Solidarität die Massenentlassung von Arbeitern entgegen und suchten aus Arbeiterkreisen, welche dem gewerkschaftlichen Verbande nicht angehören, Ersatz für die Streitenden und für entlassene Arbeiter. Letztere aber versuchten die angestellten Kräfte mit aller Gewalt und mit Gewalttätigkeiten an der Arbeit zu verhindern.
Der Kampf gilt jetzt nicht mehr dem Lohnstreike in der Pullmann’schen Waggonfabrik, er ist schon über den Rahmen eines gewöhnlichen Konflikts zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hinausgewachsen.
Nach den letzten Nachrichten ist fast überall in den Vereinigten Staaten die Lage eine sehr gefährliche, am schlimmsten aber in Chicago und in Californien, wo geradezu anarchistische Zustände herrschen.
Es liegen hierüber nachstehende Meldungen vor:
Chicago, 7. Juli. Während der Nacht durchzogen Banden von Streitenden die Stadt und deren Umgebung und steckten die Güterschuppen, die Bahnhöfe und anderes Eigentum in Brand. Mehrere hundert Waggons und eine Menge Waren sind verbrannt. Die Verluste einer einzigen Eisenbahn-Gesellschaft werden auf 1 200 000 Dollars geschätzt. Die Polizei ist ohnmächtig; die Miliztruppen kommen eilig an. Gestern fanden mehrere Zusammenstöße statt, bei denen sechs Ausständige getötet wurden. Der Streik dehnt sich auf die Oststaaten aus; man befürchtet, er werde sich schließlich vom Stillen bis zum Atlantischen Ozean erstrecken. Heute werden in Folge des Mangels an Kohlen 75 Prozent der Fabriken Chicagos schließen und dann 100 000 Menschen ohne Arbeit sein. Die Frage des allgemeinen Ausstandes wird Sonntag entschieden werden. Alle Arbeitervereine und die „Ritter der Arbeit“ werden sich wahrscheinlich der Bewegung anschließen. In Detroit sind alle Eisenbahnbeamte ausständig. In Spokane [im Bundesstaat Washington im Nordwesten der USA] zerstörten die Streikenden die Bahnlinie; die Stadt ist sehr erregt.
Chicago, 9. Juli. In Hammond [Bundesstaat Indiana, nahe Chicago] verwüstete die Volksmenge das Telegrafenbüro und brachte Güterzüge zum Entgleisen, wobei 5 Bedienstete, darunter einer tödlich, verletzt wurden. Der Salonwagen wurde verbrannt; der Verkehr ist unmöglich. Der Gouverneur von Indiana schickte 750 Mann Milizen nach Hammond. In Chicago ist die Lage nicht besser. In Pennsylvanien wurden 667 Waggons, davon 100 samt der Ladung, verbrannt. In New York hat sich die Lage gebessert. In San Louis am Missouri haben die Weichensteller und Schaffner die Arbeit wieder aufgenommen. Der Verkehr ist dort unbehindert.
Nach den neuesten Nachrichten scheint die Lage seit gestern erheblich friedlicher geworden zu sein. Die Verhängung des Belagerungszustandes in Chicago und das scharfe Vorgehen der Truppen soll schon viel zur Dämpfung des Aufruhrs beigetragen haben, doch bleibt die Lage äußerst kritisch, da die Anführer noch die Herren wichtiger Positionen sind, und der Generalstreik noch immer droht. Es sind folgende Telegramme eingegangen:
Chicago, 9. Juli. Die Führer der Arbeiter haben den allgemeinen Ausstand für morgen Mittag beschlossen, es sei denn, dass die Eigentümer der Pullmann-Werke in einen Schiedsspruch willigen. Der Ausstand wird alle Bauhandwerker, die Schlächter, die Bäder und die Beamten aller Eisenbahnen umfassen.
San Francisco, 9. Juli. Die Lage ist hier noch sehr bedrohlich. Sämtliche Matrosen und Seesoldaten von Mare Island [Navy-Basis nördlich von San Francisco] haben Befehl erhalten, die Truppen zu unterstützen. Auch die Kriegsschiffe werden für den Notfall bereit gehalten.
Kolmarer Kreisblatt am 11. Juli 1894, S. 2, Quelle
Interessant fand ich hier die Aussage, dass Bedienstete in den Waggons auf Trinkgeldbasis arbeiten, also wenig festes Gehalt bekommen und stattdessen auf Zuwendungen der Fahrgäste angewiesen sind. Für Pullman war das natürlich eine tolle Sache: Sie konnten ihre Waggons sehr günstig bewirtschaften, während die dort Beschäftigten auf die Geberlaune der Mitfahrenden angewiesen waren.
Man mag sagen: Wer gut arbeitet, bekommt auch viel – aber die Ungerechtigkeit ist offensichtlich. Für jemanden Arbeit zu verrichten, aber nicht bezahlt zu werden – da gibt es eigentlich nur einen Gewinner. Nämlich den Arbeitgeber, der kaum bezahlt.
Und dieses Problem findet sich in den USA auch heute noch oft. Okay, ich bin keine Ansässige und weiß nicht, wie es genau heute aussieht, aber zumindest im 21. Jahrhundert wurde noch darüber diskutiert, dass die Sitte, Kellnern einen Stundenlohn von kaum 2 $ zu bezahlen, damit sie sich vor allem über Trinkgeld finanzieren, doch ein bisschen unfair ist.
Natürlich habe ich auch Wikipedia bemüht, um herauszufinden, was dort über diese Ausschreitungen bekannt ist. Hier bekommen wir Einsichten, die dem historischen Beitrag fehlen. Pullman stampfte nämlich für die Mitarbeiter einen eigenen Ort aus dem Boden.
Pullman City wurde zum Vorort von Chicago, hier wohnte die Belegschaft der Pullman-Werke. Und zwar zu Mieten, die der Arbeitgeber ganz allein bestimmte. Die Wohnungen waren grundsätzlich gehobenen Standards, die Miete war aber höher als üblich. Miete, Verpflegung etc. wurde den Arbeitern direkt vom Lohn abgezogen, so dass am Ende nicht viel übrig blieb. Auf Wikipedia ist die Rede von einem Beispiel, bei dem am Ende nur 2 Cent auf dem Lohnzettel standen – im Grunde war es also Sklaverei.
Kritisch wurde es dann, als ab den 1890er Jahren die Umsätze des Unternehmens einbrachen. 1893 wurden Tausende Mitarbeiter entlassen und der Lohn der übrigen wurde gekürzt. Gleichzeitig behielt Pullmann die hohen Fixkosten für Wohnung und Verpflegung der Arbeiter doch bei, so dass am Ende noch weniger übrig blieb.
Das machte die Arbeiter unglücklich, und als Pullmann die Löhne 1894 auch nicht wieder anheben wollte, sondern im Gegenteil sogar neue Mitarbeiter zu den niedrigeren Löhnen einstellte, kam es zu ersten Streiks. Nachdem Pullman nicht auf die Arbeiter einging, verschärften sich die Streiks und letztlich schlossen sich auch Arbeitnehmer an, die nicht bei Pullman selbst arbeiteten. Das zeigt ja auch der Artikel.
Warum dieser Beitrag heute?
Ich habe diesen Beitrag für heute nicht nur ausgewählt, weil mir dieser Pullman-Streik komplett unbekannt war, obwohl er sich auf die gesamte USA ausgeweitet hatte. Sondern auch, weil es ein weiteres Beispiel dafür ist, was Kapitalismus bedeutet: Der eine kann Menschen quasi kostenlos für sich arbeiten lassen und wird dadurch immer reicher, während die Arbeiter nichts davon haben und mit ihrer Arbeitskraft ausschließlich ihre Grundbedürfnisse decken können.
Am 4. Juli hatten wir außerdem einige Beiträge zur amerikanischen Unabhängigkeit 1776. Hier basierte die transatlantische Berichterstattung noch völlig darauf, wie schnell Schiffe aus Amerika ankamen. Da konnten also mal locker zwei bis vier Wochen vergehen. Das hatte ich noch im Sinn, als ich den heutigen Artikel las. Hier, über 100 Jahre später, heißt es nun, dass „gestern“ dies und das passiert war.
1894 gab es nun aber schon Telegrafenkabel im Atlantik, so dass sich die Aktualität der Nachrichten tatsächlich auf wenige Stunden verkürzte – ein riesiger Fortschritt! Mit der Telegrafie und den Tiefseekabeln rückte die Welt auf einmal auf eine Weise zusammen, die für die Zeit zuvor absolut beispiellos ist. Finde ich wahnsinnig interessant. Wie muss es gewesen sein, wenn man eben noch wochenlang auf neue Nachrichten wartete, und auf einmal treffen sie quasi aktuell ein?
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