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Ralph Edenhofer – Ex Vitro

Ralph Edenhofer - Ex vitro
Dieses Buch erhielt von Lucyda 3 Sterne
Details zum Buch

Reihe: C23 – Band 1 (von 3)
Seitenzahl: 387
Erstausgabe: 2018

 

Menschen aus dem Reagenzglas, die als Arbeitssklaven dienen – das ist das Szenario in Ex Vitro, dem ersten Teil der dystopischen C23-Buchreihe von Ralph Edenhofer. Mutanten sind hier sehr gefragt, wenn es um schwere und gefährliche Arbeit auf Raumstationen und in Minen geht.

Ex vitro – Die Geschichte

Im 23. Jahrhundert hat sich die Menschheit ziemlich verändert. Sie setzt nicht auf künstliche Intelligenzen, wie wir das heute im Begriff sind zu tun, sondern auf Gentechnik. Offenbar hat man alle moralischen und ethischen Vorbehalte gegenüber genetischen Veränderungen am Menschen selbst über Bord geworfen und produziert nun Menschen fast wie am Fließband aus dem Reagenzglas („ex Vitro“, aus dem Glas). Der Titel des Buchs bezieht sich auf diese massenhafte Herstellung von Menschen im Reagenzglas, genannt Mutanten.

Aber das ist nicht alles. Auf der Erde gab es einen Atomkrieg, der weite Teile des Planeten unbewohnbar gemacht hat. Es stürmt und regnet häufig und ganze Teile von Europa liegen wegen geschmolzenen Eises mittlerweile unter Wasser. Aber das macht nichts, denn es gibt große Siedlungen auf dem Mond und auf dem Mars. Wer weiß, vielleicht ist ja – ganz in Terminator-Manier – eine KI am Krieg Schuld, was eine Erklärung dafür wäre, dass man damit nichts zu tun haben will ^^

Da Roboter als „Arbeiter fürs Grobe“ verpönt sind, musste eine andere Lösung her: Menschen als Arbeitssklaven. Die Mutanten stellen den großen Teil der gesamten Arbeitskraft aller Menschen. Alles, was Norms nicht machen wollen oder können, wird gnädig den Mutanten überlassen. Die befinden sich in Konzernbesitz und wurden speziell für ihre Aufgaben optimiert, etwa hinsichtlich ihrer Stärke, Größe und Robustheit gegenüber widrigen Umständen.

Da die Mutanten eine Ware sind, möchte man natürlich nicht, dass sie selbst Nachkommen zeugen können – das würde ja das Mutanten-Produktionsgeschäft kaputt machen. Also sind Mutanten unfruchtbar. Bis irgendwo in einer zwielichtigen Ecke auf dem Mars Kinder aufkommen, die eindeutig von Mutanten abstammen. Wie eine Schockwelle läuft diese Nachricht über Mars, Mond und Erde hinweg. Die „Norms“ auf der Erde sind Mutanten gegenüber sowieso schon misstrauisch, da sie sie nicht als richtige Menschen auffassen und Angst vor deren Spezialfähigkeiten haben. Dass Mutanten sich offenbar doch fortpflanzen können, lässt die Lage eskalieren.

Ex Vitro – Rezension

Auf mich wirkt dieses geschilderte Szenario des 23. Jahrhunderts ziemlich beklemmend, fast schon dystopisch. Es ist fast nichts von irgendeiner futuristischen Weisheit oder Wohlstand für alle zu sehen. Die Erde ist ein trüber Planet ohne blauen Himmel und grüne Wiesen und auch auf dem Mars gibt es Ghetto-Viertel, wo die ärmsten der Armen leben. Die gesamte Menschheit wird von großen Konzernen beherrscht, die als Arbeitgeber offenbar schon fast so wichtig sind wie die „Nationalität“. Arbeitest du bei Triple-A oder bei Cynarian? Die Antwort sagt schon viel über dich aus.

Die Arbeit definiert außerdem das gesamte Leben. Eine der beiden Hauptfiguren, die Sicherheitsagentin Kareena (von Cynarian ^^), hat nicht mal Alltagskleidung im Schrank hängen, weil sie sowieso nur ihre Berufskleidung trägt.

Bist du Mensch – oder Mutant?

Im 23. Jahrhundert gibt es völlig unterschiedliche Arten von Menschen, die sich nicht nur hinsichtlich ihres Aussehens, sondern auch ihrer Lebensdauer, ihres Körperbaus, ihrer Fähigkeiten und auch der Form ihrer Zeugung unterscheiden. Edenhofer versteht es, den Leser hier behutsam heranzuführen, so dass durch diese ganzen Menschenarten keine zu große Verwirrung entsteht.

Menschen mit Eltern

Es gibt die Norms, also „normal gezeugte Menschen“, die sich als einzige echte Menschen betrachten. Nichtdestotrotz haben sie interessante Implantate, um etwa

  • ihr Gehirn direkt mit dem Net (oder anderen Gehirnen) zu verbinden
  • Musik von einem Speicherimplantat direkt im Kopf zu hören
  • über einen „internen Drogenspender“ Beruhigungs-, Schmerz- und Aufputschmittel direkt in den Blutkreislauf zu injizieren

Über ihnen stehen die „Pures„, privilegierte Kinder reicher Eltern, die aber einige genetische Aufwertungen spendiert bekommen haben. Das bezieht sich vor allem auf die Gesundheit,  Lebensdauer und Intelligenz: Pures sind die schönen und langlebigen Elben der Gesellschaft.

Zu den normal geborenen Menschen gehören auch die Slags. Sie sind aber so arm, dass sie sich keine „Genwäsche“ leisten können, um etwa genetische Defekte durch radioaktive Strahlung zu entfernen. Slags, die „Schlacke“ der Gesellschaft, leiden häufig an genetischer Degeneration und Strahlenkrankheit, so dass man ihnen wenn möglich aus dem Weg geht. Wenn Mutanten die Sklaven sind, sind Slags sind die „Aussätzigen“ der modernen Gesellschaft des 23. Jahrhunderts.

Spacer sind Menschen, die ausschließlich auf Raumstationen bei niedrigster bis gar keiner Schwerkraft leben und wegen ihrer deswegen unterentwickelten Muskeln überall sonst auf ein Exoskelett angewiesen sind, also einen Stützanzug, der ihnen dabei hilft, sich bei höherer Schwerkraft aufrecht zu halten.

Menschen ohne Eltern

Extravagant aufgerüstete Menschen sind in Science-Fiction-Visionen ja nichts Neues, ich erinnere an dieser Stelle mal wieder an die Commonwealth-Saga von Hamilton und Tad Williams‘ Otherland. Aber Edenhofer hat nun noch weitere Menschen dazu gepackt, die mir in dieser Form tatsächlich neu sind – die Mutanten. Unterhalb der Menschen tummeln sich die Milliarden Mutanten, die nur deswegen geschaffen wurden, um für ihre Konzerne zu arbeiten.

Stellt euch eine Welt vor, in der es Menschen gibt, die von Konzernen wie am Fließband produziert werden, um als günstige Arbeitskräfte zu dienen. Die Mutanten werden sogar in verschiedenen Produktlinien klassifiziert, die unterschiedliche Merkmale aufweisen. Am weitesten verbreitet sind die Betas – sie kommen den Norms noch am nächsten. Sie werden eingesetzt, um gefährliche Arbeit zu verrichten, die normale Menschen nicht machen möchten. Alphas dagegen sind sehr große und starke, aber extrem friedfertige Menschen, die für die Schwerstarbeit vor allem auf der Erde eingesetzt werden.

Von Bedeutung für die Handlung des Buchs sind außerdem Omegas, starke und aggressive Kampfmutanten, die mit extremer Panzerung und schwerster Bewaffnung die militärische Infanterie stellt (siehe Zitat unten!). Allen Mutanten ist gemein, dass sie auf Gehorsam getrimmt sind und – auch wegen ihres eingepflanzten ID-Chips – nicht gegen ihre Besitzer rebellieren. Sie erhalten zwar Lohn für ihre Arbeit, bleiben ihr Leben lang aber in Konzernbesitz, sofern sie sich nach 20 Jahren Arbeit nicht freikaufen. Diesen großen Geldbetrag bringen aber nur die allerwenigsten auf. Außerdem sind sie alle unfruchtbar.

Eine Sicherheitsagentin und ein Raumfahrttechniker

Edenhofer entwickelt die Geschichte von Ex Vitro aus der Sicht von zwei Hauptfiguren, die immer abwechselnd betrachtet werden:

  • Kareena, eine Konzern-Sicherheitsagentin auf dem Mars, die direkt in die Entdeckung der Mutantenkinder involviert ist und danach nach Antworten sucht: Wer hat den Mutanten-Frauen dabei geholfen, Kinder zu bekommen, und warum?
  • Skip, ein Beta-Mutant, der sich freigekauft hat und nach einigen Arbeitsmonaten im Polargebiet seinen Urlaub auf der Erde verbringen möchte und dort mitten in die Auseinandersetzungen zwischen Mutanten und Menschen gezogen wird

Skips Part der Geschichte finde ich ziemlich gut und glaubwürdig. Der arme Kerl ist auf einmal in etwas hineingeraten, was er niemals wollte und wird deswegen von Ängsten und Zweifeln geplagt. Kareenas Geschichte kommt mir dagegen etwas platt vor. Sie jagt durch das halbe Sonnensystem (ok, nicht ganz), um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Das wäre eigentlich Sache einer offiziellen Ermittlung. Ihre Suche reißt nicht besonders mit, Kareena ist immer irgendwelchen Doktoren auf der Spur, aber es bleibt eine emotionale Distanz. Das ist schade, tut der Schilderung dieser Version des 23. Jahrhunderts aber keinen großen Abbruch.

Dazu kommen sehr peripher noch weitere Figuren, die aber keine eigene Perspektive bekommen:

  • der Slag Phil,
  • ein Cyborg, der ebenfalls auf der Suche nach Antworten ist
  • Hato, ein japanischer Kampfmutant
  • weitere Mutanten aller Klassen

So ist von allem was dabei. Ein wenig schade finde ich, dass die Entwicklung des Slags Phil eher degeneriert: Während er am Anfang noch das Heft in der Hand hat und eine Autorität darstellt, verwandelt er sich nach und nach nicht nur in einen halbwegs ansehnlichen Norm, sondern dient auch mehr als persönlicher Butler, der bestenfalls als Ideengeber und Teekocher fungiert. Schade!

Schon mal von Slag-Slapping gehört?

Edenhofer schreibt bildhaft, abwechslungsreich und gewandt, so dass man sich die Gesellschaft, und wie sie funktioniert, ganz gut vorstellen kann. Dazu gehören auch ein paar Eigenheiten, wie etwa der nebenbei eingeworfene Satz, dass die Polizisten der Erde, wenn sie Langeweile haben, Slag-Slapping betreiben also unter Slags willkürliche Razzien durchführen und dabei ein wenig über die Strenge schlagen ^^ Solche selbst geprägten Begriffe tragen viel dazu bei, dass eine Geschichte sich authentisch anfühlt.

Unten bei den Zitaten findest du weitere Beispiele von Edenhofers gelungener Ausdrucksweise :D

Die Suche nach Antworten

An Ex vitro finde ich aber tatsächlich die Beschreibung dieser fiktiven Zukunft interessanter als die eigentliche Geschichte. Die plötzliche Fortpflanzung der Mutanten dient, denke ich, mehr als Aufhänger dafür, dass es plötzlich zu starken Spannungen zwischen normalen Menschen und Mutanten kommt. Und dass man sich mit der Frage beschäftigen kann, was denn eigentlich ein echter Mensch ist. Ein „produzierter“ Mensch mit veränderten Genen, oder ein geborener Mensch mit teilweise ebenfalls veränderten, bzw. zumindest gereinigten Genen? Ist auch alles eine Frage des Marketings…:

„Welcher Superreiche, der seinem Nachwuchs ein Premiumgenom spendiert, will schon wissen, dass sein Blag eigentlich ein halber Beta ist?“

Ex Vitro, der erste Band der C23-Reihe (C23 für 23th century, 23. Jahrhundert), endet zunächst in sich geschlossen. Es gibt keine drängenden offenen Fragen und keine Cliffhanger. Offen bleibt aber in der Tat, ob sich die Gesellschaft ändern wird oder ob sie genauso weitermacht wie bisher.

Ohne Cliffhanger abzuschließen ist einerseits nett vom Autor, da er den Leser nicht dazu zwingt, sich flugs auch den nächsten Band zu kaufen (Das Lied von Eis und Feuer lässt grüßen). Andererseits ist genau das auch schade, denn durch die abgeschlossene Geschichte hält sich der Drang, gleich weiterzulesen, in Grenzen.

Ex vitro – Wertung

Bewertung: 3 von 5 Sternen
Obwohl es zu Ex vitro kaum Negatives zu berichten gibt, hat mich die Geschichte insgesamt nicht so gefesselt. Kareenas Handlungsstrang sowieso nicht – obwohl sie mir als Figur schon sympathisch ist -, und Skips auch nicht in der Art, dass ich das Buch überhaupt nicht mehr weglegen wollte. Die Geschichte weckt einfach nicht so sehr die Neugier darauf, was auf der nächsten Seite passiert.

Nur stellenweise strafft sich der Spannungsbogen – meistens dann, wenn Omega-Klasse-Mutanten involviert sind. Interessant wird es auch, wenn wir als Leser mehr Einblick in die dystopische Gesellschaft in 200 Jahren bekommen. Die Stärke des Buchs ist meiner Meinung nach genau die Beschreibung dieser Zukunft – und vielleicht geht es auch genau darum in der gesamten Buchreihe: Die Vorstellung eines 23. Jahrhunderts, in dem eben nicht alle Probleme gelöst sind und in dem die Menschheit sich zwar noch nicht selbst gesprengt hat, die man sich aber trotzdem nicht herbeiwünscht.

Edenhofers Stil, seine Charaktere und die Einblicke in seine beschriebene Welt sind mir sympathisch und ich würde ihm gern vier Sterne verpassen, aber der fehlende „Ich kann nicht aufhören zu lesen“-Faktor“ hat ein wenig gebremst. Betrachte Ex vitro daher als 4-Sterne-Buch der Herzen! ^^

Bewertungskategorie StoryBewertungskategorie InnovationBewertungskategorie SchreibstilBewertungskategorie Lesespaß

» So funktioniert die Buchbewertung

Ex vitro – Zitate

Kareena und Phil treffen auf eine ziemlich merkwürdige Raumschiffpilotin

Kareena nahm den unförmigen Klotz in Augenschein, der den Platz ausfüllte, wo sie bei einem handelsüblichen Schiff dieser Klasse die zweite Pilotenliege vermutet hätte.
„Bist du da drin, Ellie?“, fragte sie.
„Jep“, bestätigte sie. „Zumindest der Teil von mir, der zum Fliegen eines Raumschiffes gebraucht wird.“
Kareena überlegte, wie sie die Frage, die ihr auf der Zunge lag, möglichst taktvoll stellte.
Phil kam ihr zuvor: „Und welcher Teil ist das?“
„Hauptsächlich mein Gehirn. Deshalb nennt man unsereins ja auch Brainies. Und dazu noch die Organe, die notwendig sind, um das Hirn am Leben zu erhalten.“
Kareenas Hoffnung, er würde sich die nächste Frage verkneifen, wurde nicht erfüllt.
„Und der Rest?“
„Entsorgt.“ In Ellies Worten klang keine Spur von Bedauern mit. „Aber ich habe mit meinen Armen und Beinen ohnehin nie viel anfangen können. Wie gesagt, alles ein bisschen schief gewachsen. Stattdessen habe ich diesen fantastisch schnittigen fusionsgetriebenen Flitzer bekommen. Ich finde, das war ein fairer Tausch.“

Skip wird offenbar nur aus Langeweile von zwei Omega-Klasse-Mutanten aus einer Prügelei gerettet und versucht danach noch mit ihnen zu sprechen.

[Skip zum Omega:] „Meine CashCards sind weg. Gibt’s hier irgendwo eine Bank?“
„Vermutlich.“
„Und wo finde ich die?“
„Nicht mein Problem. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst!“
Eine Diskussion mit Kampfmutanten war zwecklos. Wenn es im Sonnensystem jemanden gab, den man nicht reizen sollte, dann einen Omega. Und zwei auf einmal schon gar nicht.
[…]
Nach zwanzig Minuten Marsch durch diverse Korridore fand er die Schlange vor dem Schalter, in der er die nächste halbe Stunde verbrachte. Zwei weitere Omega-Klasse-Mutanten wachten über die Einreisewilligen. Niemand im Universum konnte so böse dreinschauen wie die Omegas. Skip zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie jederzeit bereit waren, ihren drohenden Blicken entsprechende Taten folgen zu lassen. Regel Nummer eins im Umgang mit Omegas: Vermeide den Umgang mit Omegas!

Vielen Dank an den Belle Epoque-Verlag für das Bereitstellen des Rezensionsexemplars!

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