In seinem Buch „Mehr Zukunft wagen“ beschreibt Lars Jäger eine Welt, in der jeder Mensch im Wohlstand leben könnte, mit soviel Freizeit, wie er möchte. Er zeigt auf, dass wir bereits über Technologien verfügen, die das ermöglichen können.
Das einzige Problem: Die Gesellschaft müsste sich grundlegend ändern. Das wird sie sowieso auf die eine oder andere Art, schreibt Jäger – all die Erfindungen der letzten Jahrzehnte werden nicht spurlos am Menschen vorbei gehen. Und schon gar nicht die, die in Kürze noch kommen.
Aber es geht darum, Antworten auf drängende Fragen zu finden und der Menschheit damit einen Weg zu öffnen, wie sie die vorhandenen Ressourcen gerecht für alle verteilen kann. Dafür wirft Jäger auch einen Blick in die Philosophie.
Einführung – Angst vor dem Unbekannten
Titel: Mehr Zukunft wagen!
Untertitel: Wie wir alle vom Fortschritt profitieren
Erstveröffentlichung: 23. September 2019
ISBN: 978-3579014807
Seiten: 271 + Literaturanhang
Wir leben in einer Zeit, die von schweren Umwälzungen geprägt ist. Wer heute aufwächst, der wird von einer radikal anderen Umwelt geprägt als noch die Eltern und Großeltern. Das alles beherrschende Internet begann erst wenige Jahre vor der Jahrtausendwende seinen großen Siegeszug in der breiten Gesellschaft – das ist nicht mal 25 Jahre her!
Klar, dass solche rapiden Änderungen zu Unsicherheiten und Ängsten führen.
Man könnte von der Technik abgehängt werden und auf einmal zum alten Eisen gehören, oder, noch schlimmer, „Boomer“ genannt werden. Das ist DER trendige Schimpfbegriff für die Baby Boomer-Generation aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, der man kaum rudimentäre Online-Kompetenzen zutraut. Die Digitalisierung könnte den Arbeitsplatz bedrohen und so den sozialen Abstieg befeuern.
Oder was ist mit Datendiebstahl? Kaum jemand weiß, welche Spuren wir tagtäglich im Internet hinterlassen und wie sie von „den Konzernen“ eingesetzt werden, um uns mit effizienter Werbung zu beschallen oder sogar zielgenau Wahlkampagnen damit zu adressieren und uns somit unbemerkt zu manipulieren. Die Gesetzgebung hinkt dagegen immer Jahre hinterher.
Dazu kommen Hass und Hetzerei im Internet und das Aufkommen völlig abstruser Verschwörungstheorien, die in einschlägigen Foren und Gruppen fruchtbaren Boden finden.
Davon abgesehen haben wir Angst vor zu wenig Rente im Alter, vor der Klimakatastrophe und vor versiegenden Rohstoffen. Hin und wieder flackert auch die Angst vor einem globalen Krieg auf, oder vor einer globalen Pandemie, und manche haben auch Angst vor „Überfremdung“.
Es gibt viele Gründe, Angst zu haben oder sich zumindest unsicher zu fühlen.
Keine Angst!
Da kommt ein Buch genau richtig, das uns sagt: Keine Angst! Alles lässt sich lösen. Wenn wir es richtig machen, werden Menschen zukünftig leben wie im Paradies. Ohne finanzielle Sorgen, ohne ohne Neid und Missgunst auf die Güter anderer, ohne Hunger, ohne Krankheit.
Wir müssen nur ….. „nur“…
Ja. Und weil das alles nicht einfach so vom Himmel regnet, beschreibt Lars Jäger eigentlich eine Utopie. Denn aktuell sind viele unserer Befürchtungen ja berechtigt und es sieht nicht so aus, als würden wir uns auf ein Paradies zubewegen.
Aber das ist egal. „Mehr Zukunft wagen“ ist ein wichtiges Buch, das beschreibt, was werden könnte und was die Menschheit leisten könnte, wenn sie gemeinsam umdenkt. Nicht jedes Land für sich, während die großen Konzerne für Gewinnmaximierung über Leichen gehen.
Das ist Lars Jägers große Botschaft: Wenn jeder weiter sein eigenes Süppchen kocht, dann kann sich die Menschheit nicht für das neue Zeitalter wappnen, das auf jeden Fall kommen wird. Es geht nicht, dass einzelne Länder null Netto-CO2-Emissionen umsetzen, während große Verschmutzernationen weiter auf Kohlekraft setzen. Und könnte eine Industrienation, die als Reaktion auf die Auswirkungen der Digitalisierung ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle einführt, im Kreise der Wirtschaftsnationen konkurrenzfähig bleiben?
Jäger beschreibt in „Mehr Zukunft wagen“, welche Überlegungen „die Menschheit“ anstellen müsste, um die Ressourcen des Planeten zum Wohle aller gerecht zu verteilen und sie gleichzeitig nicht zu überstrapazieren.
Die Dramaturgie von „Mehr Zukunft wagen“
Zunächst schaut Jäger sich an, welche Probleme und Krisen uns aktuell zu schaffen machen.
Aber Lars Jäger hat eine optimistische Botschaft: Schon im 18. und 19. Jahrhundert beschworen Gelehrte und Ökonomen den baldigen Weltuntergang durch begrenzte Ressourcen und Bevölkerungswachstum herauf. Das ist bisher nicht eingetreten, denn die stetige Expansion des Menschen wird möglich gemacht durch immer neue Erfindungen und Optimierungen. Sie ermöglichten es bisher, dem drohenden Untergang immer wieder ein Schnippchen zu schlagen.
Jäger zeigt anhand einiger Beispiele auf, dass es Wissenschaftlern durch Kreativität und effiziente Zusammenarbeit gelungen sei, die vorhandenen Rohstoffe immer besser zu nutzen. Somit ist immer weniger Platz, Kosten und Arbeitszeit notwendig, um das Produktionsniveau zu halten.
Düngemittel, automatisierte Arbeitsmaschinen und gezielte Züchtungen etwa ermöglichen heute ein Vielfaches an Ertrag aus einem Acker wie vor 100 Jahren. Für die Rechenleistung, die heute das billigste Smartphone hat, war vor wenigen Jahrzehnten noch ein raumfüllender Computer nötig.
Das ist ja Science-Fiction!
Das Argument der unendlichen Kreativität des Menschen ist schon mal nicht von der Hand zu weisen :D Aber Jäger macht noch weiter.
Er erklärt nun einige faszinierende Technologien, die schon jetzt oder in naher Zukunft verfügbar und nutzbar sein werden – etwa CRISPR/Cas, eine Methode, mit der sich die DNA einzelner Bakterien gezielt verändern lässt. Damit lassen sich diese Zellen dann für ganz andere Zwecke einsetzen, z.B. zur gezielten Krebsbekämpfung in der Medizin. (Siehe auch diese Meldung vom 6.02.2020: Krebs erstmals mit Crispr-Gentherapie behandelt)
Dadurch macht er deutlich: Der Mensch hat gerade erst angefangen und ihm steht eine goldene Zukunft bevor. Ähnlich wie Yuval Noah Harari in Homo Deus (den Jäger auch zitiert) stellt Jäger fest, dass sich die Menschheit an der Schwelle dazu befindet, alle bisherigen existentiellen Fragen und Problemen zu überwinden. Technologie und Fortschritt sind so weit, innerhalb der nächsten wenigen Jahrzehnte Krankheiten, Hunger und Hunger beseitigen zu können.
„Der Mensch“ könnte quasi zum neuen Gott werden. Theoretisch könne er Designerbabys schaffen (Gentechnik), aus dem Nichts Gegenstände herstellen und quasi ohne Kosten beliebig oft weiter produzieren (siehe zB. 3D-Druck), er könne seine individuellen Fähigkeiten durch smarte Technik immer mehr erweitern, er brauche auch nicht mehr zu arbeiten, ohne Wohlstand einbüßen zu müssen (KI und Robotik).
Die Verwandlung des Menschen führt zur Human-Krise
All die Krisen, die wir aktuell noch sehen, darunter vielleicht am drängendsten die Klimakrise, seien eigentlich „technische Probleme“, die sich mit entsprechendem Einsatz und Technologie in den Griff bekommen ließen. Es gäbe aber eine andere Krise, derer wir uns eigentlich gar nicht bewusst seien, und die muss der Mensch bewältigen, um weiter zu bestehen: Die Human-Krise.
In der Fortschrittsdynamik stehen wir an einem Punkt, an dem Bio-, Gen-, Quanten- und Neurotechnologie den Menschen und die menschliche Zivilisation in bisher unvorstellbarer Weise transformieren und unser Selbst- und Menschenbild sowie die Spielregeln unseres Lebens und Zusammenlebens entscheidend verändern. […] Dies ist die Human-Krise. […] Denn in den kommenden Jahren wird sich entscheiden, in welche Richtung sich die Menschheit weiterentwickeln wird.
Lars Jäger: Mehr Zukunft wagen, „Die Human-Krise“, S. 69f
Die Krise besteht darin, drängende Fragen zu beantworten, die der technische Fortschritt mitbringt. Jäger listet sie auf. Es gilt etwa zu entscheiden, wie weit KI und Algorithmen in das individuelle Leben eingreifen dürfen, oder ob und wie weit genetische Veränderungen erlaubt sein dürfen, oder was es für die Gesellschaft bedeuten würde, wenn Menschen mehrere Hundert Jahre alt werden könnten.
Auf diese Fragen werden Antworten benötigt, denn klar ist: Die vielen faszinierenden Technologien, und die noch faszinierenderen Technologien, die noch nicht einmal in Sicht sind, werden das Leben grundlegend verändern.
Macht der Mensch weiter wie bisher, strebend nach Gewinnmaximierung unter Nutzung von Ausbeutung, unreglementiert und ungezügelt und teilweise noch auf Basis jahrzehntealter Normen (etwa der 40 Stunden-Woche), wird es nicht möglich sein, die globale Probleme zu lösen. Zu sehr haben Egoismus, das Recht des Stärkeren und damit Geld das Sagen. Mit Umweltschutz und Menschenrechten lässt sich eben kein Geld verdienen.
Die Philosophie soll helfen
Nur, wie und wer findet Antworten auf diese Fragen, und wie lassen sich die unzähligen Interessen Aller auf einen Nenner bringen?
Wenn nicht die Wirtschaft die Überhand bekommen soll und damit automatisch einen Großteil der Menschen außen vor lässt (nur wer Geld hat, kauft ein), dann muss man viel tiefer graben und überlegen, welche Werte denn für das Menschsein von Bedeutung sind. Für Jäger kann die Philosophie dabei helfen, Antworten zu finden.
Ein großer Teil in der Mitte seines Buchs beschäftigt sich mit Philosophen und ihren Aussagen und Erkenntnissen zum menschlichen, vernünftigen Verhalten.
Ich gebe zu, dass mir dieser Teil zu theoretisch wurde und ich mich nur mit etwas Zwang durchgegraben habe. Jäger bemüht hier die großen philosophischen Kaliber der letzten 2500 Jahre. Er bringt unter anderem Sokrates, Platon und Kant ins Spiel und es geht um ganz tiefgreifende Fragen und Thesen.
Nur wer akzeptiere, dass er nichts weiß, suche nach neuem Wissen und ermögliche damit, überhaupt mehr zu erfahren. Es geht etwa um intellektuelle Redlichkeit, um die Tugend der Skepsis und um kritischen Rationalismus.
Jäger verpasst uns hier einen philosophischen Round House Kick und macht damit deutlich, dass die Bewältigung der Human-Krise nicht durch zaghafte Veränderungen an bestehenden Gesetzen möglich ist, sondern durch ein Umdenken, eine Uminterpretation der menschlichen Gesellschaft ansich. Das ist notwendig, um sich am Ende auf Leitlinien für die gesamte Menschheit einigen zu können, die nicht wirtschaftlich bedingt sind und damit auf Konkurrenzdenken basieren.
Aber ich fand zugegebenermaßen den philosophischen Teil sehr ermüdend zu lesen. Jäger ist selbst (unter anderem) Philosoph und es ist daher kein Wunder, dass er sich ergiebig damit beschäftigt, aber mir hat es tatsächlich gereicht, diese philosophischen Kapitel zu überfliegen und ihre Erkenntnisse in das abschließende Kapitel mitzunehmen.
Zu schön um wahr zu sein
Am Ende gibt Jäger in „Mehr Zukunft wagen“ noch einen Ausblick auf eine Menschheit, die ihre Transformation bewältigt hat. Unser größtes Problem ist dann, was wir mit all der Freizeit anstellen.
Für Egoismus sei in einer neuen Welt kein Platz. Egoismus bedeutet, dass man sich wenn nötig auf Kosten von Moral und den Interessen anderer Vorteile verschafft, um das Beste für sich herauszuholen – Thema Abgasskandal zum Beispiel, oder Thema Trump.
Wenn der Mensch es schaffe, den kapitalistischen Wachstumsgedanken abzulegen und das Streben mehr auf das Allgemeinwohl zu konzentrieren, dann können alle Krisen gelöst werden. Es geht nicht darum, dass Topmanager Suppe an Obdachlose verteilen oder einen Bruchteil ihres Privatvermögens stiften.
Utopisch sind Jägers Visionen, weil jemand den Anfang machen muss – und alle anderen müssen nachziehen. Das sind nicht nur Superreiche, sondern eben auch Regierungen und Politiker. Und dass diese ihre eigene Positionen verschlechtern, um mit gutem Beispiel voran zu gehen, erscheint, nunja, utopisch.
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Vertraut auf die menschliche Kreativität!
Am Ende macht Lars Jägers „Mehr Zukunft wagen“ Mut. Der Titel richtet sich nicht nur an Zauderer, denen Schlagworte wie Digitalisierung und KI Angst machen. Er adressiert die Menschheit ansich, als die Spezies, die für den Planeten, dessen Ressourcen sie immer weiter ausschöpft, Verantwortung trägt.
Ich weiß nicht, inwiefern Jägers Analysen zutreffen und ob es Aspekte gibt, die er vielleicht nicht berücksichtigt hat. Deswegen würde ich mich nicht trauen, hier von einer Anleitung zur „menschlichen Erlösung“ zu sprechen. Aber ich finde dennoch, dass die Ausarbeitung umfangreich und interessant genug ist, um sie jedem „World Leader“ zur Lektüre vorzulegen. Insbesondere denjenigen, die irgendwelchen fanatischen Religionen folgen oder nur egoistisches Wachstum im Kopf haben.
So ein Buch kann eine Grundlage zur Diskussion bilden und letztlich einen friedlichen Wandel anstoßen. Und deswegen ist das Buch so wichtig.
Mehr Zukunft wagen! – Wertung
Ich bin grundsätzlich immer etwas pessimistisch, wenn es um die Zukunft der Menschheit und eine globale Zusammenarbeit geht. Aber dieses Buch hat mir tatsächlich Mut gemacht und ich halte es nicht mehr für unmöglich, dass es möglich ist. Wir müssen doch „nur“ das Streben nach egoistischem Wirtschaftswachstum aufgeben, dann kann jeder vom Fortschritt profitieren!
Auch wenn ich den philosophischen Teil in der Mitte etwas quälend fand, gefiel mir das Gesamtwerk sehr gut. Wer sich für dafür interessiert, wie es mit der Menschheit weitergehen könnte, der sollte zugreifen!
» So funktioniert die Buchbewertung
Ich bedanke mich bei der Randomhouse-Verlagsgruppe, die mir das Buch zur Rezension überließ. Meine Meinung zum Buch wurde nicht durch das geschenkte Exemplar beeinflusst!