Details zum Buch
Autor: Jasper Fforde
Titel: Grau
Erstveröffentlichung: 2010 (Orig.) / deutsch 2024
Deutsche Übersetzung: Thomas Stegers
Seiten: 555
Unter den Blinden ist der Einäugige König – das Sprichwort trifft auch auf die Welt zu, in der die Geschichte von “Grau” spielt. Nur geht es nicht um Blinde, sondern um Farbenblinde. Warum auch immer kann die Menschheit in dieser merkwürdigen Geschichte keine Farben sehen. Jeder sieht nur einen gewissen Anteil einer oder zwei Farben – und je höher dieser Anteil ist, desto besser für den eigenen Status. Wer gar keine Farben sieht, gehört zu den Grauen, der untersten Gesellschaftsschicht.
Aber warum sehen Menschen keine Farben? Das erklärt Autor Jasper Fforde nicht. In “Grau” wirft er mich ins eiskalte Wasser. Ohne große Erklärungen finde ich mich in einer Welt wieder, die mir vollkommen fremd ist. Doch Fforde schreibt so gut, dass ich mehr darüber erfahren möchte.
Ich lese heraus, dass die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr existiert. Man spricht jetzt nur noch von den “Einstigen”, von denen es viele Hinterlassenschaften gibt, zum Beispiel Ruinenstädte, alte technologische Überbleibsel oder auch hier und da verwitterte Graffitis an Hauswänden.
Seit dem Gewissen Ereignis können Menschen nicht mehr alle Farben sehen. Was das Gewisse Ereignis ist, wird nicht erklärt – und das ist gut so, denn damit befinden wir uns schon mitten in der Geschichte.
Was ist das „Gewisse Ereignis“?
Und die geht so: Eddie Russett ist ein junger Mann mit starker Rotsichtigkeit, der in einer streng hierarchischen Gesellschaft aufwächst. Hier gelten für jeden Aspekt des Lebens feste Regeln und wer dagegen verstößt, wird hart bestraft. So wie Eddie. Er reichte einen Vorschlag zur Optimierung von Warteschlangen ein. Dafür handelte er sich eime Strafe wegen „Beleidigung der schlichten Schönheit von Warteschlangen“ ein und wird zur Strafe in den abgelegenen Ort East Carmine geschickt. Dort soll er durch eine Stuhlzählung durchführen und dadurch Demut lernen. Würde er sich besser in Schlupflochkunde auskennen, hätte er sich dagegen schützen können.
Schon kurz nach der Ankunft trifft er auf die Graue Jane, die sich ganz und gar nicht standesgemäß verhält und zudem ein Geheimnis zu hüten scheint. Und dafür droht sie, über Leichen zu gehen, ganz besonders Eddies Leiche. Zu dumm, dass er sich gerade in sie verliebt hat. Jedenfalls beginnt Eddie, sich dank ihrer Gespräche Fragen zu stellen: Über die Welt, in der er lebt und auch darüber, warum sie so starr ist. Und was ist überhaupt das Gewisse Ereignis? Niemand scheint es zu wissen.
Farbrausch, Löffel-Schätze und Mustermänner
“Grau” strotzt nur so vor blühender Fantasie. Alles im Buch wirkt irgendwie vertraut, und doch so fremd. Da ist zum Einen die ganze Geschichte mit den Farben. Die Menschen scheinen in ihrer grauen Welt geradezu süchtig nach Farbtupfern zu sein. Es gibt “synthetische Farbe”, die allen einen Eindruck vermitteln, wie echte Farbe aussieht.
In längst verlassenen Ortschaften finden sich lukrative Farbreste, die eingesammelt und zu neuer Farbe verarbeitet werden. Auch Löffel gibt es dort oft zuhauf – da Löffel nicht mehr hergestellt werden dürfen, gehören sie zu den wertvollsten Fundgegenständen in Ruinenstädten überhaupt. Wären da nur nicht das gefürchtete “Gesindel”, Kugelblitze oder gar Schwäne! Schwanangriffe sind gleich nach der Mehltau-Krankheit eine der häufigsten Todesursachen.
Doch zum Glück gibt es Mustermänner – Doktoren, die Farbmuster für viele häufige Krankheiten mit sich führen. Herzprobleme? Ein Blick auf ein bestimmtes Farbmuster hilft garantiert. Der Farbton Lincoln-Grün hat dagegen einen stark berauschenden Effekt. Wer “sich das Grün gibt”, der stirbt gar an einer Überdosis Grün.
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Meine Wertung
Normalerweise habe ich wenig Geduld mit Geschichten, die ihre Welt kaum erklären, doch in “Grau” ist das anders. Trotz all der unbekannten Variablen am Anfang komme ich in die Story rein und möchte mehr über diese merkwürdige Welt erfahren. So etwas kann anstrengend sein, aber in diesem Fall hat mich die Ignoranz des Autors gegenüber seiner Leserschaft überzeugt. Richtig spannend ist die Story aber nicht, es macht nur Spaß, ihr zu folgen. Es ist nicht so, als hätte ich vor Spannung nicht aufhören können.
Die Geschichte und die Welt, in der sie spielt: beides ist so charmant absurd-witzig und zugleich dystopisch. Fforde schreibt mit geradezu unheimlicher Fantasie. Die Zitate weiter unten geben ein paar Beispiele. Ich habe mich immer wieder an die Buchreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“ erinnert gefühlt. Wenn du sowas magst: unbedingte Empfehlung!
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Ein paar Beispiele
„Stafford?“, flüsterte ich mit vor Angst zitternder Stimme.
„Grau“, Seite 65
„Ja, Master Edward?“
„In der Gasse steht ein nackter Mann. Er könnte … Gesindel sein.“
Stafford drehte sich um, sah den Mann an und sagte: „Ich kann niemanden erkennen.“
„Ich aber.“
„Nein. Er existiert nicht, Master Edward. Glauben Sie mir, in Unser Munsells Namen.“
Ich begriff. Trotz ihrer ungeheuren Komplexität und Tragweite vermochten es die Regeln nicht, auch nur mit den geringsten Abweichungen fertig zu werden, für die in einer Welt des verordneten Absoluten kein Platz vorgesehen war. Statt den Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen oder zu erklären, verlieh man ihnen einfach den Status von Apokryphen und ignorierte sie penetrant, um nur ja nicht die Frage nach der Unfehlbarkeit der Regeln aufkommen zu lassen.
Die Distribution von synthetischen Farbtönen wurde von NationalColor streng kontrolliert, und es gab nur eine einzige Möglichkeit, sich Farbe selbst zu beschaffen: durch Einsammeln von Farbresen, die zu Rohpigmenten recyclet wurden. Eine Tonne roten Wertguts ergab etwa fünf Liter Univisuelles Pigment. Das reichte, um dreihundert Rosen ein halbes Jahr mit Vollfarbe auszustatten oder ein ganzes Jahr mit Halbfarbe. Manche Dörfer nutzten jede Lichtstunde zum Sammeln von Farbresten, was manchmal sogar dazu führte, dass die Grundnahrungsmittelproduktion zu kurz kam. Farbe und der Genuss von Farbe waren das Ein und Alles.
Grau“, Seite 108
Trainspotting, Knöpfe-, Steine-, Münzen- oder Briefmarkensammeln waren die üblichen Optionen, aber auch Stricken, Malen, Versuchskaninchenzucht oder Geigenbau fanden ihre Anhänger. Manche sammelten Artefakte aus der Zeit vor dem Gewissen Ereignis, zum Beispiel Strichcodes, Zähne, Geldkarten oder Letterntasten, die es in verwirrend vielen unterschiedlichen Formen und Größen gab.
Über gesellschaftlich anerkannte Hobbys. Grau“, Seite 145
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